Foto: Eleonora Bellocci als Ottavia (l.) und Roberta Invernizzi als Fulvia © Birgit Gufler
Text:Roland H. Dippel, am 6. August 2022
„Was für eine harte Aufgabe, die Römer zu bändigen.“ stoßseufzt der Diktator Silla im ersten Aufzug und fragt sich einen Akt später, ob das Betteln um Liebe vor der ihm verschmähenden Ottavia eine Option wäre. Im dritten gibt er die Staatsmacht an den römischen Senat und das Volk zurück und wird sich in Zukunft nurmehr dem Studium und der Bildung widmen. Ein Bilderbuch-Herrscher also, könnte man denken – wie in vielen Opern-Apologien über Potentaten des Absolutismus. Aber das am 27. März 1753 im Knobelsdorff-Bau Unter den Linden, der heutigen Berliner Staatsoper, uraufgeführte Dramma per musica ist anders als viele, viele opere serie dieser Zeit. Von den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik geht die Produktion mit Berlin-affinem Produktionsteam kommendes Jahr zu den Osterfestspielen Schloss Rheinsberg. Zu bestaunen gab es im Tiroler Landestheater an der ersten Neuproduktion nach 240 Jahren einiges. Über vier Stunden vergingen wie im Flug.
Die italienischen Verse von Giovanni Pietro Tagliazucchi folgen einem von drei Libretto-Entwürfen von König Friedrich II. von Preußen, die der musik- und kunstsinnige Herrscher in französischer Sprache verfasst hatte. Komponiert wurde „Silla“ vom preußischen Kapellmeister Carl Heinrich Graun (1704 oder 1705-1759). Egal ob es am durch die Nähe zum kreativen König bewirkten Adrenalin-Ausstoß, an der prominenten Besetzung mit dem Kastraten Giovanni Carestini in der Titelpartie und der Sopranistin Giovanna Astrua als Ottavia oder an der bereits um 1750 einsetzenden Bewegung zu einem mehr emotionalen als standardisierten Musiktheater lag: Die Partitur ist ein großer Wurf, der zweite Akt mit seiner stringent überraschungsreichen Steigerung einer der aufregendsten Opernakte des mittleren 18. Jahrhunderts.
Vier herausragende Countertenöre
Nicht nur wegen der vier bei den Innsbrucker Festwochen der alten Musik aufgebotenen Counterstimmen aus der aktuellen Bestenliste wurde die Aufführung zum Fest, sondern auch durch den seinen Abschied vom Intendanz-Posten zum Glück bis 2023 verschiebenden Alessandro De Marchi. Die Personenregie von Georg Quander, der in den 1990er-Jahren als Lindenoper-Intendant die Kooperationsachse Berlin-Innsbruck eingeleitet hatte, störte nicht. Sie hätte angesichts von Grauns brennender dramatischer Kraft etwas Tiefenschärfung gut vertragen können. Aber sie bot auch viel Gutes, weil das Ensemble sich in schöne, dekorative und wirksame Posen warf. Zum Beispiel Roberta Invernizzi, die als Patrizierin Fulvia ihrer Tochter Ottavia die Liaison mit dem Diktator Silla andient, obwohl dieser ein Feind ihrer Familie ist. Quander lässt gerne vor Kopien von Bühnenmalereien und Architekturzeichnungen spielen. Julia Dietrich liefert ihm diese passgenau – sie gestaltete auch die Kostüme: Bei der schwarzen Soldateska ein paar Preußen- und Gasmasken-Assoziationen, Degen, Krinoline und für den in jeder Hinsicht attraktiven Diktator ein Ganzkörper-Body in dunkelrotem Samt mit Gold. Kostüm macht Staat.
Reflexionen über Machtmissbrauch
Das ganze lange erste Bild ist eine Braut-Ankleideszene Ottavias. Nur weiß diese noch nicht, für wen sie sich aufputzt – für den von ihr favorisierten Postumio oder für Silla. Es ist bezeichnend, dass Eleonora Bellocci erst nach dieser recht formellen Introduktion sich immer freier, intensiver und schöner dieser zerrissenen Figur nähert. Ihre lange Klagearie gerät paradiesisch. Graun geht in seinen besten Momenten weiter als Mozart in seinem maßvolleren „Titus“, der mehrere ähnliche Handlungssituationen beinhaltet wie „Silla“. Bejun Mehta steht als Titelprotagonist im Zentrum, dominiert mit drei Arien schon im ersten Akt. Die Intensität des Parts steigert sich, weil Friedrich II. die Darstellung eines Tyrannen auf dem Weg zur Läuterung nicht genügte. Mit jedem Ton reflektiert Silla seine Impulse zu Missbrauch und Machtmissbrauch. Mehta singt klug, sinnlich, betörend und maßvoll – einfach souverän.
Friedrich II. nahm aus dem dramatischen Reservoir zeittypischer Klappsituationen nur das ihm Wichtigste an Liebe, Verrat und Versöhnung. Also muss sich Ottavia nur zwischen dem ersten Mann im Staat und dem ersten Mann ihres Herzens entscheiden. Sie tut es für letzteren und damit den Langzeit-Adoleszentensopran Samuel Mariño. Bei ihm weiß sie, was sie hat. Eindeutige Gefühle, viel Schmelz und auch Schutzraum vor einer aufgeklärten Welt, in der jeder Entscheidungsschritt genau überlegt sein muss. Es zeigt den qualitativen Quantensprung im Fach der Counter, wenn Hagen Matzeit von vier Positionen die am wenigsten auffällige Partie des Ratsherren Lentulo erhielt. Er ist eindrucksvoll. Es erstaunt und beglückt an diesem Abend immer wieder die Vielfalt der stimmlichen Timbrierungen.
In vielen anderen Barockopern wären Sillas engste Ratgeber Metello und Crisogono edlen, eitlen oder eifersüchtigen Beweggründen gefolgt. Hier stürmen sie mit humanen bzw. machiavellistischen Argumenten auf den Diktator ein. Sillas Entscheidungsfindung zwischen Trieb und Rechtmäßigkeit wird zum äußerst intensiven Handlungsstrang. Natürlich ist der Mann im grünen Rock der gute. Valer Sabadus macht das als Metello in seinen Arien und Ausstrahlung unmissverständlich deutlich, klingt nur für die ihm übertragene engelgleiche Stimme der Loyalität und Vernunft ein wenig neutral. Dennoch bewährt er sich eindrucksvoll gegen die schurkische Opposition, was keine einfache Aufgabe ist. An der Partie des Crisogono zeigen Quander und Dietrich, dass sie doch einige Funken szenische Fantasie haben. Dieser Freigelassene hat lange weißblonde Haare wie die weissagende Sybille und ist ambivalent bis in die Finger- und Notenspitzen. Mert Süngü strahlt als vokaler Magnat und Magnet, den nicht einmal Mehta als Silla mit sängerischer Souveränität und Persönlichkeit schachmatt setzen kann. Mit dabei der etwa zwanzigköpfige Coro Maghini, für seine wenigen Auftritte in glänzende Form gebracht von Claudio Chiavazza. Das Innsbrucker Festwochenorchester unter Alessandro De Marchi akzentuiert mehr die empfindsamen als die pompösen Farben. Langer Jubel für die Sänger und die musikalische Leistung insgesamt. Folgeproduktionen ercheinen unbedingt empfehlenswert.