Foto: Besuch beim Untermieter unter dem eigenen Tisch: Florence (Philippine Pachl) bei Dragomir (Stefan Walz) © Uwe Schinkel
Text:Andreas Falentin, am 1. Juli 2019
Das im kleinen Theater am Engelsgarten beheimatete Schauspiel Wuppertal beschließt die Spielzeit 2018/2019 mit einem bemerkenswerten programmatischen Schwerpunkt. Gleich drei Premieren sind Wiederbegegnungen mit literarisch hochwertigen Texten gewidmet, die auf unterschiedlichen Pfaden zwischen surrealistischer Poesie und Sozialgroteske oszillieren und zudem jeweils aus der letzten Schaffensphase stammen. Nach Franz Xaver Kroetz‘ Trieb-Drama „Der Drang“ und vor „IchundIch“, dem letzten Text der Wuppertaler Hausheiligen Else Lasker-Schüler, hatte jetzt „Ein Winter unterm Tisch“ von Roland Topor Premiere.
Topor, Maler und Schriftsteller, Regisseur und Bühnenbildner, Drehbuchautor und Schauspieler war ein Kulturberserker der besonderen Art, ein anarchischer Expressionist und wild sozialkritischer Surrealist. Seine Stücke haben oft bizarre, kleinteilige Strukturen, auch gerne blutige Sujets wie etwa „Monsieur Laurents Baby“, wo ein Kindsmord vom Verbrechen zum Skandal zur Touristenattraktion herabkommt. „Ein Winter unterm Tisch“ wirkt dagegen tatsächlich wie ein klassisches Spätwerk. Die skurril schneidenden Kanten sind abgerundet, alles scheint im Gleichgewicht zu schwingen, auch die Dramaturgie scheint perfekt ausbalanciert. Aber Haltung und Richtung sind noch vorhanden und scheinen einen aus dem Text anzuschreien wie ein Clownsgesicht.
Die Story ist einfach: Die Übersetzerin Florence, die sich in einer beruflichen Identitätskrise befindet, vermietet den Raum unter ihrem Arbeitstisch als Wohnung an den illegalen Flüchtling Dragomir. Man genießt gegenseitig die neue soziale Wärme, aber das Umfeld treibt die zwei wieder auseinander. Und doch gibt es ein Happy-End? 1994 war das eine possierlich-schrullige Phantasie, für die sich kein französisches Theater interessierte, so dass die – folgenlose – Uraufführung in Mannheim stattfand. 2004 dann entdeckte man das Stück als Schauspielerfutter, eine Aufführung in Paris war der Renner der Saison und beide Hauptdarsteller wurden mit dem Moliére ausgezeichnet, Frankreichs bedeutendstem Theaterpreis. 15 Jahre später wirft jetzt die Regisseurin Schirin Khodadadian sozusagen einen dritten Blick auf das Stück.
Dessen Story nicht mehr dieselbe ist, weil sie nah an unsere Lebenswirklichkeit herangerückt ist. Also ein aktuelles Sozialdrama mit kleinen absurden Wunderkerzen zur Distanzierung? Diesen Weg geht Khodadadian nicht. Sie stellt das Material nicht aus, sondern versucht, in es einzudringen, legt gleichsam Muster übereinander. Da stehen die schrillen, popartigen Kostüme neben einer auf das Nötigste reduzierten Bühne: ein auf ein Podest auf der Drehbühne gestellter Kubus, der von Papierbahnen umspannt ist, die Florence nach und nach herausreißt, ihren Lebensnerv und das Symbol für ihre Krise. Zu Anfang gibt es zusätzlich noch Tisch und Stuhl, am Ende nichts mehr. Gespielt wird zeichenhaft, zu Beginn als Gruselschocker-Parodie per Schattenspiel, danach mal in die Künstlichkeit hochgetrieben, mal mit der Geläufigkeit des Boulevardtheaters, mal wird mit Hollywood-Glamour durch Klischees getaucht. Und es wird musiziert, hingebungsvoll und ziemlich versiert von Martin Petschan auf der Geige, mit etlichen Percussionsinstrumenten und in einem wunderbaren Pop-a-capella-Quintett kurz vor Schluß.
Nur manchmal ist das zu viel, wird die Aufführung zu kleinteilig, ertrinkt eine Szene zumindest ansatzweise im Nebel der Beliebigkeit. Im Großen und Ganzen aber arbeitet Khodadadian die Eigentümlichkeit des Textes großartig heraus: seine Janusköpfigkeit. Leben oder Traum, Pathos oder Ironie, Spott oder Wut, aufgesetzte Sentimentalität oder Herzlichkeit? Wenn am Ende Gritzka, der Geigenvirtuose, Dragomirs Cousin, der teilweise den Untertisch mit ihm geteilt hatte, Musikerkarriere macht und ein Haus kauft, indem er Florence und Dragomir zusammenbringt – dürfen wir das glauben? Wollen wir das überhaupt glauben? Wo doch die Verhältnisse nicht so sind… an welchem Ende brennt das Streichholz denn nun?
Der Abend hält dieses schwebende Gleichgewicht, bewahrt Haltung, entsteht aber erst wirklich im Kopf der Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Aufgabe für die Schauspieler ist nicht leicht. Stefan Walz rettet sich als Dragomir mit Virtuosität, Routine und Musikalität, Martin Petschan steuert als Gritzka seine starke, extrem individuelle Ausstrahlung und große Beweglichkeit bei. Zentrum der Aufführung ist aber eindeutig Philippine Pachl als Florence. Sie ist in jedem Moment echt, natürlich, bleibt aber stets Kunstfigur mit hellblonder Perücke in weißem Kleidchen, Marylin vom Lande in einem Film von Woody Allen. Man bekommt nicht genug von ihr. Hier ist Regisseurin und Schauspielerin eine große Theaterfigur gelungen – und um sie herum eine sehr ansehnliche Aufführung.