Foto: "Zur schönen Aussicht" am Schlosstheater Moers © Lars Heidrich
Text:Detlev Baur, am 21. September 2018
Ada Freifrau von Stetten (Magdalene Artelt) ist der einzige zahlende Hotelgast im „Zur schönen Aussicht“; zur sexuellen Erbauung ihres hohlen Lebens zahlt sie für alle Männer und Frauen vor Ort: für den Kellner Max (Roman Mucha), der Wert darauf legt, dass er eigentlich kein Kellner sei, für den autolosen Chauffeur Karl mit dunkler Vergangenheit (Frank Wickermann), für die deutschnationale Geschäftsfrau Müller (Lena Entezami) und vor allem für den erfolglosen Hoteldirektor Strasser (Matthias Heße). Diese Möchtegern-Bohème residiert und vegetiert im heruntergekommenen Hotel.
Ödön von Horváths frühes Stück ist das unerfreuliche Panoptikum einer dekadenten Welt. Mit dem Auftauchen des Zwillingbruders Emanuel Freiherr von Stetten (Patrick Dollas) kommt erstmals Bewegung auf, er hätte gerne von seiner herrschsüchtigen Schwester Geld zur Begleichung von Spielschulden. In Ulrich Grebs Inszenierung des seit dem letzten Jahr wieder häufiger gespielten Stücks fungiert ein Einheitsraum (Bühne: Birgit Angele) als Speisesaal und für die angrenzenden Hotelzimmer. Die länglichen eng gestellten Tische vor einer seitlichen Spiegelwand sind alle mit leichtem Gefälle nach vorne versehen, so dass sie im weiteren Verlauf zusammengeschoben der Herrscherin Ada auch als Podium dienen können. Mittels Nummernschildchen befinden sich unter der Tischdecke auch die Zimmer und ihre Betten. Ada lässt die Männer dort anrücken – und speit ihnen später den von Frau Müller gelieferten und von Strasser längst nicht bezahlten Sekt ins Gesicht.
Die Sitten sind rauh und Ada, von einer großartig auftrumpfenden und zugleich ihre Leere andeutenden Magdalene Artelt gespielt, herrscht wie die alte Dame in Friedrich Dürrenmatts gleichnamigem Nachkriegsstück. Anders als bei Dürrenmatt ist in „Zur schönen Aussicht“, diesem Stück, das zwischen den Weltkriegen entstanden ist, auch Raum für eine individuelle Zeichnung der leidenden Täter, über ihre Funktion in der Handlung hinaus. Mit dem Erscheinen von Christine (Elisa Reining) kommt es schließlich zu einem abrupten Wechsel der Loyalitäten, der seinen Ursprung in pekuniären Wendungen hat. Christine hatte sich im Vorjahr in Strasser verliebt und als Folge der Sommerfrische zurück in der Stadt ein Kind zur Welt gebracht. Er fürchtet erst, die junge Frau wolle nun seine Hand und sein Geld; und in einer solidarischen Aktion der Schurken versuchen die Männer, Christine sexuelle Kontakte mit allen Anwesenden zu unterstellen. Doch dann offenbart Christine, dass sie just zur reichen Erbin geworden sei; so wendet sich das Blatt und alle Männer wollen nur noch zur jungen Frau, die alte Königin ist abgemeldet.
Christine aber, das sensible und zugleich stabile Wesen, sieht ein, dass sie alleine ihrer Wege gehen muss. Dem dick aufgetragenen Plot entsprechend sind in Moers die sieben Darsteller durchgehend mit strohgelben Masken ausgestattet, die Kostüme (Elisabeth Weiss) und die Bemalung von Gesicht und Armen erinnert an Geister oder ausgemergelte Militärs. Und dennoch lässt das knapp zweistündige Spiel, der Textvorlage entsprechend, auch Raum für individuelle Töne. Der lieblose Umgang dieser haltlosen Menschen, die verblasste Hoffnung auf europäische Kultur und die irre Hoffnung auf ein deutschnationales Erstarken, vielleicht auch Christines Fragen an Gott und Geld, machen das Stück zu einem Stück der Stunde. Während Christoph Marthalers Inszenierung 1999 in Salzburg die politische Dringlichkeit des Textes noch nicht deutlich machen konnte, sind nun die Umstände – leider – deutlich günstiger für eine neue Aktualität Horváths.
Dem durchweg starken Ensemble in Moers gelingt beeindruckend die Balance aus Totentanz und differenzierten Dramen. Am Ende erschießen sich beinahe alle Beteiligten, Christine verlässt die endgültig zerstörte kleine Welt in einem grünen Raumfahreranzug. Die Hoffnung verschwindet mit ihr, und doch versucht Strasser die Toten zu bestatten und die Tische neu einzurichten. Mit einfachen, wohl dosierten Mitteln hält uns die Regie einen Spiegel vor; mit einem Stück aus düsterer Zeit, die an unsere erinnert. Furcht vor diesen menschlichen Monstern und das Mitleid mit ihnen halten einander die Waage. Ein starker Saisonstart am Schlosstheater.