Florian Jahr in seiner Theatergarderobe während der Zoom-Aufführung "Superspreader"

Der apokalyptische Reiter

Albert Ostermaier: Superspreader

Theater:Residenztheater, Premiere:01.12.2020Regie:Nora Schlocker

„Superspreader“ hat einen Bruder, und der ist zwei Jahrzehnte älter – Albert Ostermaiers Monolog „Erreger“ wurde im Jahr 2000 ausgezeichnet beim Stückemarkt in Heidelberg und von Lars-Ole Walburg uraufgeführt am Staatsschauspiel in Hannover, wo damals gerade das EXPO-Spektakel stattfand. „Superspreader“, der jetzt in virtueller Zoom-Premiere aufgeführte Monolog des Autors, verhandelt mit neuem Text das alte Thema; Spielidee und Dramaturgie, Struktur und Haltung allerdings ähneln dem „Erreger“ von damals wie ein Ei einem zwanzig Jahre älteren…

Selbst das Szenario ist verwechselbar. In „Quarantäne“, ortlos, aber irgendwie „unten“, abseits der normalen, bewohnten Welt, befand sich auch damals schon der Unternehmensberater und Aktienhändler, der da schmerzhaft und schonungslos die eigene, fundamental kontaminierte Rolle im damals (und auf Dauer!) aktuellen neuen Raubtier-Kapitalismus globaler Shareholder-Value-Strategien zum Thema machte. Der Mann selbst enttarnte sich als „Virus“, das Firmen radikal und ohne jede Rücksicht auf Effizienz und Gewinn verschlankte – indem vor allem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Straße gesetzt wurden. Leute wie er seien aber nicht die „Krankheit“ im Wirtschaftssystem – dieses System selber sei infiziert und todgeweiht. Und ein Unternehmensberater wie er sei auch nichts anderes als ein Auftragskiller.

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Der „Superspreader“ jetzt nennt sich Marcel, aber der Name, sagt er, sei Schall und Rauch; und er beginnt auch jetzt wieder mit dieser Selbstanalyse. Die Quarantäne allerdings, in der er sich befindet, ist derzeit naturgemäß viel besser verstehbar – real befindet sich der Solo-Darsteller Florian Jahr in der eigenen Theatergarderobe im Residenztheater, die einem schlichten Hotelzimmer ähnelt. Der Blickwinkel der fest installierten Kamera zeigt halblinks das Bett, halbrechts Waschbecken und Papierkorb, am rechten Rand den Schrank und im Hintergrund das Fenster im sehr alten Stil. Die Spielfigur bewegt sich sparsam in diesem Bild, trinkt Wasser am Hahn und zerwühlt das Bett; einziges Requisit ist ein roter Plastikkanister. Aus dem überschüttet sich der Herr mit Flüssigkeit – und suggeriert, das sei Benzin… Bald darauf allerdings hockt er klatschnass vor dem Schrank und raucht: ein Fake also. Wir sind natürlich im Theater.

Der Unternehmensberater von heute beginnt wie damals mit der Analyse der Krankheit zum Tode, die „Kapitalismus“ heißt; zugleich legt er mit gelegentlichen Film- und Kino-Zitaten Spuren zur aktuellen Pandemie aus, zur viralen Welt der Gegenwart. Später blitzen auch Szenen auf, in der Marcel selber die maximale Ansteckungsquote beschwört, die einer wie er erreichen konnte – sein Künstlername sei „Aerosol“. Mit einiger Anstrengung hat Ostermaier obendrein das Psychogramm fundamentaler Schuldkomplexe implantiert – die hat die herzlose Mutter Marcel eingeredet. Jetzt ist für diesen Mann das Virus im eigenen Rachen die Rache – Ostermaiers Text ist bei aller finstren Poesie auch durchsetzt mit derlei kleinen Albereien. Und nach dem fingierten Autodafé mit Kanister nimmt die Selbstbezichtigung eine neue Wendung – in der (wiederum aus dem Kino entlehnten) Phantasie von der tödlichen Rache, die Fauna und Flora am Menschen nehmen werden, weil der die Natur zerstörte.

Ostermaier, ganz apokalytischer Reiter, hängt der Figur also noch ein grünes Mäntelchen um – und misst die finale Katastrophe aus. Kein Impfstoff werde die Seuche beenden, nur das Virus selbst – wenn der letzte Rest der Menschheit getilgt sei von der Erde. Dazu schaut uns Florian Jahr tief in die Augen; und haucht die Kamera-Linse an, bis alles verschwimmt.

Als literarischer Finsterling gab sich der Autor schon beim „Erreger“ damals; er bleibt sich treu. Nora Schlockers Inszenierung will dem Publikum so nahe wie möglich kommen – darum wird Jahrs Solo in einer Zoom-Konferenz präsentiert, vor nicht einmal 20 Bildschirmkameras; der Darsteller hatte der Nahbarkeit wegen um maximal 15 Zoom-Gäste gebeten. Wer will, kann bei der Premiere Kolleginnen und Kollegen beim Zuschauen zuschauen. Und wer das eigene Mikrophon aktiviert, kann dem Darsteller auch auf einige rhetorische Fragen antworten; immersiv wird diese virtuelle Theaterstunde dadurch aber nicht wirklich. Und die Anstrengung des Textes jetzt weitet sich bald zur Überanstrengung. Vor allem aber wird alles überlagert vom Schatten des älteren Bruders – „Superspreader“ heute ist „Erreger“ 2.0…