Foto: Das Ensemble ist bedrückt über das, was passiert ist. © Krafft Angerer
Text:Michael Laages, am 12. Oktober 2024
In Hamburg verlegen Dörte Hansen und Antú Romero Nunes eines von Anton Tschechows meistgespielten Stücken in die Obstplantagen vom „Alten Land“ südöstlich der Hansestadt. Aus dem „Kirschgarten“ wird ein „Apfelgarten“ – eine schöne Idee, die aber zu überhaupt nichts führt.
Das Abholzen einer uralten Plantage in russischer Provinz gab Anton Tschechows letztem, 1904 uraufgeführten Stück den Namen „Der Kirschgarten“. Das Werk wurde zum Klassiker. Die Schriftstellerin Dörte Hansen und der Regisseur Antú Romero Nunes übertragen die Geschichte jetzt in eine Apfelplantage im „Alten Land“. Das funktioniert gut. Aber welchen Gewinn, welchen Mehrwert erzielen Äpfel gegenüber Kirschen?
Tatsächlich überhaupt keinen – „Der Apfelgarten“ in am Thalia Theater in Hamburg ist ein Musterbeispiel dafür, dass „Überschreibungen“ (auch wenn sie formal funktionieren) durchaus völlig sinnlos und zweckfrei sein können – praktisch zu ziemlich belanglosen „Unterschreibungen“ werden.
Und warum?
Wer sich eine handelsübliche „Kirschgarten“-Aufführung anschaut, sieht eine in völliger Auflösung begriffene russische Provinzgesellschaft von vor über hundert Jahren. Um sich dieser Welt anzunähern und das Stück zu verstehen, müssen Zuschauerin und Zuschauer selbst eine Transferleistung erbringen – das Gesehene in die gegenwärtige Alltagswelt übertragen. Diese Arbeit nimmt die Hamburger Fassung von Hansen und Nunes dem Publikum rückstandsfrei ab. Jede Art von Abgrund und Geheimnis wird dem Stück ausgetrieben. An die Stelle des originalen Zaubers tritt kein neuer. Wohin das Stück nun führt? Ins Alte Land natürlich, jaja – aber irgendwie auch ins Nichts.
Übertragung ohne Eigenwert
Handwerklich untadelig haben Hansen und Nunes Tschechows historisches Personal ins Heute, Hier und Jetzt übertragen: Mit der einigermaßen weltfremden Hof-Besitzerin von Holt, die jetzt nicht mehr (wie bei Tschechow und als Ranjewskaja) in Paris, sondern in Berlin weit über die eigenen Verhältnisse lebt. Und Jascha, der jetzt „Alex“ heißt (englisch gesprochen!), früher noch „Diener“ war sowie Geliebter und jetzt „persönlicher Assistent“ ist – mit den gleichen Pflichten und ohne alle Skrupel. Die dunkleren Seiten von Charlottenburg kennt er sicher wie die eigene Westentasche.
Auch die von der Familie angeödete Tochter Anja gehört zur Reisegruppe, die da auf dem Altländer Hof kurz vor der Pleite einfällt. Sie, Mutter und Alex treffen hier auf Beke, die alte Großmutter der Sippe sowie auf deren Stieftochter Wiebke, ehedem Warwara. Sie hält den Betrieb noch halbwegs in Schuss. Außerdem sind da noch von Holts nicht sonderlich lebenstauglicher Bruder Gunnar (ehedem Gajew) und Herr Grabowski, der früher Lopachin hieß.
Als Sohn eines früheren Knechts auf dem Anwesen (im Original wie bei Hansen und Nunes jetzt) ist er Geschäftsmann geworden und will den Hof demnächst ersteigern. Grabowskis Vater durfte hier einst nicht mal die Küche betreten. Jetzt will der Sohn hier „Tiny Houses“ bauen lassen, Luxus-Hütten für Sommerfrischler. Früher hießen die Häuschen noch „Datschen“. Das Land, auf dem bislang noch die Hofgebäude stehen, und der Apfelgarten eben auch, hat er im Kopf schon parzelliert und weiß ziemlich genau, wieviel er hier verdienen wird.
Feine Unterschiede
Struktur und Logik der Geschichte folgen dem Original. Nur ein schräger Nachbar kommt hinzu. Er ist scharf auf die historischen Möbel im Holt-Hof, weiß sonst aber nicht viel anzufangen mit der Welt, in der er lebt. Am Schluss wird er nach Bayern übersiedeln. Der einstige Hauslehrer der Hof-Eignerin, unter dessen Obhut einst ein Sohn der Chefin in den Fluss des Dorfes fiel und zu Tode kam, gilt jetzt (eher un-scharf) als „Reisender“, ist aber (wie im Original) ein ewiger Student, zeitgemäß ein Öko-Hippie, und tut sich schließlich mit Tochter Anja zusammen. Und wenn die Geschwister Holt samt persönlichem Assistenten zurück nach Berlin aufbrechen, bleiben –nun wirklich mal anders als bei Tschechow- nicht etwa der alte Diener Firs, sondern Oma Beke und die patente Stieftochter eingeschlossen im Haus zurück. Wiebke, die Hobby-Jägerin, hat ein Gewehr dabei … das wird nicht gut ausgehen.
Noch einmal: so lässt sich die alte Fabel heute umstandslos erzählen. Es entsteht aber nichts, was irgendwann mal beunruhigender wäre als das Original.
Zumal die Nunes-Inszenierung über ziemlich weite Strecken eine Art von schepperndem Humor bedient, der selbst an Häusern, die sich als „Volkstheater“ verstehen als einigermaßen überholt gilt. Nunes heute lässt speziell an den Rändern des Ensembles und auch im musikalisch anstrengend zeitgenössischen Gartenfest des dritten Aktes ziemlich derbe auf die komödiantische Pauke hauen. Das tut der Aufführung gar nicht gut. Als wäre in den Proben bemerkt worden, dass im „Apfelgarten“ all das fehlt, was den „Kirschgarten“ ausmacht. Aber die Comedy-Tube hilft nicht – Kirschen bleiben Kirsche, und Äpfel sind nur Äpfel. So jedenfalls ist Tschechow nicht zu toppen.