Foto: "Eine Jugend in Deutschland" an den Münchner Kammerspielen © Francesco Giordano
Text:Anne Fritsch, am 17. Oktober 2020
Es ist das zweite Premierenwochenende an den Münchner Kammerspielen unter der neuen Intendantin Barbara Mundel. Und es startet mit einem großen Spektakel zwischen Schauspiel und Puppenspiel. Jan-Christoph Gockel inszeniert „Eine Jugend in Deutschland“ nach dem 1933 erschienenen Roman von Ernst Toller. Doch eigentlich inszeniert er noch viel mehr: Er verwebt die Autobiographie des Autors mit seinen dramatischen Werken, mit „Hinkemann“, „No more peace“, „Masse Mensch“ und „Hoppla, wir leben!“ sowie der Perspektive auf die Gegenwart. Biographisches, Historisches und Dramatisches vermengen sich zu einem Panorama Deutschlands im vergangenen Jahrhundert. Aus einer Jugend in Deutschland wird das Leben einer ganzen Generation in Deutschland.
Das ist freilich viel Stoff. Und Gockel begegnet ihm mit einem Viel an Formen. Wie eine Serie unterteilt er den Abend in sechs Folgen: „Blick heute“, „No more peace“, „Toller und sein Hinkemann“, „Räterepublik“, „Ein Stück Masse“ und „Hoppla wir leben!“. Den Anfang macht Walter Hess. Im schwarzen Trainingsanzug, dem Grundkostüm aller Spieler*innen, tritt er auf die Bühne und erzählt, wie er, der Altgewordene, auf sein Leben zurückschaut. Wie er eine Art „Recherche des eigenen Lebens“ betreibt, sein Leben rückblickend noch einmal liest: „Wie bei einem Stück sieht man den Anfang anders, wenn man das Ende kennt.“ Er ist Ernst Toller, der sein Leben und sein Schaffen in einer Retrospektive noch einmal vorüberziehen lässt. Den Anfang macht eine Schulklasse voller Puppenkinder, die bald Stahlhelme aufhaben und in den Ersten Weltkrieg ziehen werden. Viele von ihnen werden an der Front zerfetzt werden. Martin Weigel, der den jungen Toller spielt, wird sich die abgerissenen Puppenteile an den Körper haften wie eine Erinnerung, die er nie wieder los wird. Gro Swantje Kohlhof wird – wie in Tollers „No more peace“ – als Napoleon mit dem Heiligen Franziskus von Assisi, gespielt von Bekim Latifi, eine faustische Wette eingehen: Ist sich ein guter Mann in seinem dunklen Drange des rechten Weges nun bewusst? Oder wird er doch zum Kriegstreiber? Toller jedenfalls wird nach seinem Fronteinsatz schwören, nie wieder ein Gewehr in die Hand zu nehmen, wird für die Republik kämpfen. Guter Mann.
Gockel lässt den Hinkemann mit seinem Autor abrechnen, er inszeniert die Revolution und die Ermordung Kurt Eisners. Auf der Bühne gibt es einen Maskenball (was den Corona-Beschränkungen natürlich ebenso entgegen kommt wie das Puppenspiel), eine leicht klamaukige Volksversammlung, einen live übertragenen Flugzeugabsturz im Innenhof und einen Stummfilm zur antisemitischen Thule-Gesellschaft im Hotel „Vier Jahreszeiten“ mit Gro Swantje Kohlhof in allen Rollen, die sich auch noch grandios selbst live synchronisiert. In dieser Phase der Inszenierung schwingt eine etwas unglückliche „Wir erinnern an das Vergessene“-Haltung mit. Unglücklich, weil: Vergessen ist Ernst Toller nicht. Vor allem nicht, seit sich die Revolution 2018 zum hundertsten Mal jährte, es Theaterprojekte von Hans Well und Christine Umpfenbach sowie eine Ausstellung in der Monacensia zum Thema gab. Der einzige, der sie tatsächlich „vergessen“ hat, ist Ministerpräsident Markus Söder, der in seiner Rede zum 100. Geburtstag des Freistaats Bayern ohne Erwähnung von Eisner und Co. auskam. Trotzdem: Zwei Jahre nach all den Gedenkveranstaltungen von einer „vergessenen Revolution“ zu sprechen, wie das auch im Programmheft geschieht, lässt auf eine eher oberflächliche Auseinandersetzung mit der Thematik schließen.
Überhaupt ist an diesem Abend viel gut, aber von allem eben auch ein wenig zu viel. Zusätzlich zur ohnehin ereignisreichen Biographie Tollers werden mal eben seine Stücke mit inszeniert. Themen und Fragen werden angeschnitten, aber nicht ergründet. Der optische Effekt wird manches Mal über den inhaltlichen Mehrwert gestellt, hie und da wird es wirr. Am Ende des Spektakels findet sich Walter Hess wiederum alleine auf der Bühne. Der Rückblick auf sein Leben als Ernst Toller endet, wie er begonnen hat: mit einem Blick zurück auf die Schulklasse, in der er einst saß. Diesmal werden die Schulbänke mit den Puppen auf die Bühnenwand projiziert, sie stehen nun auf einer Wiese in der Natur. Die Zeit der Unschuld, die Zeit vor den Weltkriegen ist in weite Ferne gerückt. Toller – und das Publikum – wissen nun um ihr Schicksal. Der alte Mann ist ein Fremder in einer Gesellschaft voll selbstoptimierter Individuen geworden. Alle Ideale vergessen? Alle Kämpfe vergebens? Der Abend endet nachdenklich und mit einer Ruhe, die ihm zwischendurch abhanden gekommen ist. Hess verweist auf die Sintflut wie Tollers Hinkemann. Dessen letzte Worte lauten: „Jeder Tag kann das Paradies bringen, jede Nacht die Sintflut.“ Es liegt in unserer Hand.