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Denn sie wissen, was sie tun…

Johann Wolfgang von Goethe: Faust

Theater:Residenztheater München, Premiere:05.06.2014Regie:Martin Kušej

Wenn schon ein ambitionierter Regisseur wie Martin Kušej eins der Spitzentheater des Landes wie das Residenztheater in München als Intendant leitet, dann versteht sich ein „Faust“ früher oder später von selbst. Auch wenn er das eigentlich nicht machen wollte. Und natürlich braucht München dieses Kernstück bürgerlicher Selbstvergewisserung und Infragestellung. Aber einfach so ist das bei Kušej nicht zu haben. Der Österreicher, der ja mancherorts als Nachfolger des gerade gefeuerten Matthias Hartmann auf dem Wiener Burgtheater-Gipfel gehandelt wurde, hat in München erst mal ein bisschen gewartet, hat seinen Platz auf dem Münchner Intendantensessel in der Dieter-Dorn-Nachfolge und der Johan-Simons-Nachbarschaft (an den Kammerspielen) konsolidiert, es zu etlichen Einladungen zum Theatertreffen gebracht – und erst jetzt zu einem FAUST-Schlag ganz eigener Art ausgeholt. Der hat nichts vom großen stundenschindenden Verse-Event à la Peter Stein oder einem Trash-Feuerwerk. Dass er den renommierten Münchner Stückeschreiber Albert Ostermaier zur „dramaturgischen Mitarbeit“ eingeladen hat, deutet die Richtung an. So wie der Titel des Programmheftes.

Da schweben nämlich die Buchstaben, die Goethes Klassiker ankündigen, vor schwarzem Grund wie im Raum. Jeder für sich, etwas durcheinander. Aber doch auf den ersten Blick als „FAUST“ zu erkennen. So ähnlich ist es auch mit den Szenen, die in den drei Stunden im Residenztheater folgen. Eine Abfolge von den diversen Vorspielen bis zu Gretchens Ende gibt es nicht. Zumindest nicht so, wie man sie kennt. Der Herr, die Engel, aber auch der Schüler oder Gretchens Freundinnen fehlen. Dafür lernen wir mal ihre Mutter kennen. Und die ist nicht nur in allem ach so akkurat, sondern scheuert der Tochter auch mal eine, mag Knäckebrot und hält ihr das Schicksal jenes Bärbelchens entgegen, über das Gretchen schon da nicht mehr lachen konnte, als noch am Brunnen darüber getratscht wurde. Diesmal ist es eine mütterliche Standpauke. Die himmlischen Mächte sind nur noch indirekt im Spiel. Wenn sich Bibiana Beglau als Mephisto die Sachen vom Leibe reißt, dann sieht man große Narben, wo dem so tief gefallenen Engel vor seinem Sturz in die Finsternis einst die beiden Flügel gewachsen sein müssen. Zwiegespräche mit dem Herrn gibt es höchstens als zynisches Selbstgespräch. Aber in dieser Welt hätte ein Gott eh keinen Platz. Er reicht nicht mal mehr für die Menschen.

Martin Kušej hat Goethes genialische Vorahnung über die weltverändernde Macht des tätigen, bürgerlichen Individuums und ihren moralischen Preis als das Resümee der Epoche von ihrem Ende her gelesen. Und das fällt finster aus. Mephistos Wort von der Liebe zum „Ewig Leeren“ ist denn auch das letzte des Abends. Begonnen hatte er mit dem Ende von Philemon und Baucis. Den Hauch des Feuerschlags, der die beiden widerständigen Alten vernichtet, spürt man im ganzen Saal. Sein Gestank hängt noch lange im Raum und in dieser Welt der Dunkelheit.

Castorfs Ring-Bühnenbildner Alexandar Denic hat eine ganze Welt auf die Bühne gewuchtet. Zweistöckig, technisch, mit Versatzstücken einer Vergnügungsindustrie, mit einem Kran, an dem irgendwann ein aufgehängtes Pferd durch die Nacht kreist. Hier vereitelt Wagner Fausts Selbstmord, indem er ihn erbrechen lässt. Hier treiben die Hexe respektive Frau Marthe (Hanna Scheibe) handgreiflich ihr Unwesen. Hier wird Auerbachskeller zum Fight Club. Diese metaphorische Nacht, in der sich Fausts Selbsthass und seine Skrupellosigkeit gegenseitig aufschaukeln, wird nur durch das verführerisch gleißend Weiß der Unschuld in Gretchens Kammer unterbrochen. Wo die hinreißende Andrea Wenzl in ihrem Blute endet. Dass der Mephisto an der Seite des Endzeit-Faust Werner Wölbern eine Frau ist, lädt die Reise des Duos zwar durchaus erotisch auf. Doch Bibiana Beglau liefert eine gleichsam übergeschlechtliche Erotik des Bösen und spielt mit teuflischem Witz und Sarkasmus den Erkenntnisvorsprung aus, den dieser Sohn respektive diese Tochter des Satants dem Selbstverwirklicher neben sich allemal voraus hat.

Martin Kušej und seinen Protagonisten ist ein irritierend starker, dunkel leuchtender Abend gelungen. Einer mit wenig Respekt vor den Wünschen der Deutschlehrer, aber einer mit vollem Vertrauen auf die visionäre Kraft von Goethes Text. Beim Premierenpublikum ging das auf.