Foto: Helge Schmidts "Cum-Ex Papers" am Lichthof Theater © Ivo Mayr/CORRECTIV
Text:Sören Ingwersen, am 26. Oktober 2018
Wer beim Reizwort „Cum-Ex“ schmutzige Fantasien entwickelt, liegt ganz richtig. Allerdings gehe es hier nicht um derbe Erotik, begrüßt Ruth Marie Kröger die Zuschauer im Hamburger Lichthof Theater zur Premiere von „Cum-Ex Papers“. Ein Theaterprojekt, das in den dunkelsten Niederungen des Hier und Jetzt verankert ist und ein Thema reflektiert, bei dem sich einem die Nackenhaare sträuben. Börsenhändler, die sich in unfassbarem Ausmaß an der Staatskasse bereichert haben, sind Gegenstand dieser „Recherche zum entfesselten Finanzwesen“ mit drei Schauspielern, denen ein wahres Kunststück gelingt: eine an sich trockene Materie der Zahlen, Daten und Fakten ebenso erhellend wie unterhaltsam aufzubereiten.
Hinter dem kreisrunden Lamellenvorhang – der auch als Projektionsfläche für TV-Schnipsel dient, in denen sich Cum-Ex-Täter und -Kritiker zu Wort melden – beginnt eine Befragung, die wirklich stattgefunden hat: Am 24. und 25. April 2018 gab ein anonymer Whistleblower den Investigativ-Journalisten Christian Salewski und Oliver Schröm ein insgesamt achtstündiges Interview für die ARD-Sendung „Panorama“. Was sind das für Menschen, die die europäischen Steuerzahler in den Jahren 2001 bis 2011 um über 50 Milliarden Euro beraubt haben? Und wie funktionieren Cum-Ex-Geschäfte eigentlich? Dieser Frage stellen sich Ruth Marie Kröger, Jonas Anders und Günter Schaupp mit ihrem selbst entwickelten Projekt, zu dem Regisseur Helge Schmidt die Texte beigesteuert hat.
Als Whistleblower unter dem Decknamen Benjamin Frey probt Anders den großen Auftritt mit Bühnennebel im Gegenlicht. Gönnerisch grinsend und mit geblähter Brust erzählt hier ein Mensch, dem die Etikette alles bedeutet, von seinen ersten Erfolgen als junger Anwalt. Die innere Unsicherheit wird in der gestischen Übertreibung sichtbar, wie überhaupt an diesem Abend das Stilmittel der Groteske nicht zu kurz kommt. Es zeigt auch die autistische Selbstbezogenheit einer Parallelgesellschaft der Superreichen, die den Staat zu ihrem Feind erklärt hat und Fragen der Moral von vornherein ausblendet. An einem einfachen Beispiel mit Spielzeugauto und Pappschildern erläutern Kröger, Anders und Schaupp das Cum-Ex-Prinzip: Über Verkaufsversprechen, sogenannten Leerverkäufen von Dividendenaktien, wird dem Staat vorgegaukelt, es gäbe zwei unterschiedliche Aktienbesitzer. Während nur einer von ihnen die Kapitalertragssteuer zahlen muss, können beide sich später die Steuer zurückerstatten lassen und die Beute teilen. Ein System, dessen Motor die ungehemmte Gier seiner Teilnehmer ist.
Schöne Bilder für kapitalgetriebenes Potenzgehabe am Rande des Wahnsinns liefert das kurzweilige Stück, wenn Anders die fest umschlungene Ruth Marie Kröger motorengeräuschimitierend zugleich als Porsche und Kopulationspartnerin vereinnahmt. Oder wenn beide sich wie eine fremdgesteuerte Reiz-Reaktions-Maschine die verbalen Insignien ihrer Luxussucht um die Ohren hauen: „Uhr – Porsche – Dubai …“. Auch wenn Günter Schaupp als Edel-Kellner mit eingefrorener Mimik unsichtbare Mini-Tassen serviert, oder die Darsteller sich ekstatisch zuckend in einem Meer aus silbernen Flitterstreifen aalen wie Dagobert Duck in den Talern seines Geldspeichers, darf gelacht werden. Nie jedoch wird die Grenze zum Klamauk überschritten, wenn feiner Spielwitz, originelle Regieeinfälle, überzeugende Schauspielkunst und erstklassige Recherche- und Aufklärungsarbeit zu einem homogenen Ganzen verschmelzen, während sich zwischendurch per Video die realen Protagonisten und Experten dieses Jahrhundertskandals zu Wort melden: der angeklagte Cum-Ex-Akteur Hanno Berger, die Journalistin Franziska Bulban, die zusammen mit ihrer Kollegin Alexandra Rojkov und dem Recherchezentrum „Correctiv“ die Fakten zur Stückentwicklung lieferte, sowie Gerhard Schick, Grünen-Politiker und Gründer der „Bürgerbewegung Finanzwende“, der im Anschluss an die Aufführung zusammen mit dem Journalisten Oliver Schröm zum Publikumsgespräch lud. Gesellschaftspolitisch relevanter und näher dran am Tagesgeschehen kann Theater kaum sein.