Foto: Das Ensemble der Wahl in "Münster – Stadt der Sehenden". © Marion Bührle
Text:Jens Fischer, am 17. Juni 2013
Die Idee ist verführerisch: Wahljahr 2013, das Wissen um allgemeine Parteienverdrossenheit und die einlullende Formulierungsblasen der Polit-Profis, ihre Paralyse zwischen globaler Ausrichtung, nationalen Wirtschaftsinteressen und sozialen Staatsaufgaben – aktuell dramatisiert „nach“ José Saramagos Roman „Stadt der Sehenden“: eine vielschichtig reflektierte Hoffnung, dass moralisch integere Bürger mehrheitlich spontan ein respektvoll friedensreiches Miteinander ohne Polizei, Militär, Politiker organisieren. Und all das mal frech hinterfragen – ausgerechnet am Theater in Münster. Die Stadt der 210000 Wahlberechtigten sorgt immer wieder dafür, dass ihre Urnengängerquote unter den Top Ten der bundesdeutschen Wahlkreise landet. Aber dann das: „Aufgrund unüberwindlicher künstlerischer Differenzen entband die Theaterleitung Regisseurin Nicole Oder zehn Tage vor der Premiere von der Regie. Schauspieldirektor Frank Behnke führte das Projekt zu Ende.
Im Zuge dieses künstlerischen Eingriffs wurde der Schwerpunkt des Abends von der Recherche – die von der Regisseurin nicht erbracht wurde – zum Performativen und Interaktiven verschoben.“ Das Genre lautet nun nicht mehr „Rechercheprojekt“, sondern: „Ein demokratischer Abend“. Und dazu gehört eben: Abstimmen. Jeder Zuschauer bekommt Stimmzettel. Und darf diese hochhalten zu Fragen wie: Wer geht im Herbst wählen? Wer hält Demokratie für alternativlos? Ganz direkt werden Besucher auch angesprochen, für welche Idee sie demonstrieren und was sie als König von Deutschland tun würden. Das Publikum beklatscht politisch korrekte Meinungsäußerungen und bekommt als Lohn Politikerparodien vorgeführt. Zudem werden statistische Erhebungen und pflichtschuldige „Ich gehe wählen, weil …“-Aussagen rezitiert. Das wirkt recht uninspiriert und halbherzig, da alle Äußerungen folgenlos für den Abend bleiben.
Oder ist das die Aussage, dass es also schlicht egal ist, wie abgestimmt, was gesagt, gedacht wird? Politik ist vor allem Erhalt aktueller Machtsysteme, das Volk nur Stimmvieh? Spannende Fragen. Die Ausgangssituation bei Saramago wie für die „Münster – Stadt der Sehenden“-Uraufführung ist die tiefe Vertrauenskrise der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie: Stell dir vor, es ist Wahl – und 83 Prozent der Stimmzettel bleiben kreuzlos: weiß. Eine Provokation wie eine weiße Leinwand im Museum. Menschen haben sich emanzipiert, die Grinse-Scharlatane des selbstherrlichen Polittheaters durchschaut und daraus Konsequenzen gezogen? Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bedeutet, sich dem bedeutungslosen Ritual der Wahl sowie den Politikern die Legitimation ihrer Jobs zu verweigern? Aber was passiert jetzt? Anarchie? Chaos? Kannibalismus? Diese Angstvorstellungen treiben wohlmeinende Menschen in Münster und anderswo zum kleineren Übel: lieber doch eine Partei wählen.
Bei Saramago sind sie, ein weißes Zeichen setzend, mutiger. Und die Staatsmacht entsprechend empört. Sie will die Freiheitsnahme einer „missbräuchlich legalen Auslegung“ des Wahlrechts „brutalst möglich aufklären“. Also deuten. Als unpatriotischen Frevel? Anschlag aufs System? Weltweite Verschwörung? Nicht mit diesen Inhalten, aber mit der Irritation spielt die Aufführung. Gezeigt werden unterschiedliche Reaktionen: Politiker legen ihr Amt nieder und wechseln auf die Widerstandsseite, andere wollen den Protest aussitzen, setzen daher einen Untersuchungsausschuss ein, wiederum andere fordern strafende Rache. Bespitzelung, Verhöre, Folter und militärische Isolation der Wahlverweigererstadt sind die Folge, als gelte es, eine hoch infektiöse Terrorzelle zu bekämpfen. Aus einem demokratischen System wird ratzfatz ein totalitäres Regime. „Ein gut organisierter Staat darf eine solche Schlacht nicht verlieren, das wäre das Ende der Welt. – Oder der Beginn einer neuen.“ Auf der Textebene sind die zentralen Aussagen der Vorlage also vorhanden, auf der Assoziationsebene kommt ein wenig „Empört euch!“-Rhetorik hinzu, auf der Bewegungsebene wird versucht, ein bisschen Freiheit zu tanzen. Aber eine eigenständige Auseinadersetzung mit dem Thema, eine theatrale Übersetzung, ein mutiges Hinaus ins Offene utopischen Denkens, all das ist leider nicht zu erleben. Gute Schauspieler sind engagierte Animateure und ordentliche Kabarettisten für einen unterhaltungswilligen Regisseur. Willkommen bei einem netten Kleinkunstabend!