Foto: "Grooming" am Deutschen Theater Göttingen © Thomas Müller
Text:Jan Fischer, am 17. Mai 2015
Die Leinwände im Hintergrund und die Vogelzwitscher-Soundeffekte zeigen: Es ist ein schöner Tag im Park. Ein Mädchen sitzt auf einer Parkbank, sie knetet leicht nervös ihren Rock. Ein Mann setzt sich daneben und beginnt, über Filme zu reden.
Und so geht es los, das Machtspiel.
„Grooming“, sagt Wikipedia, aber später auch das Mädchen, als es schon längst kein Mädchen mehr ist, „ist das gezielte Ansprechen von Personen im Internet mit dem Ziel der Anbahnung sexueller Kontakte“, oft geht es dabei um die sexuelle Belästigung Minderjähriger.
Er, der Mann ist der Jäger, sie, das Mädchen, die Gejagte, er hat sich als 16-Jähriger ausgegeben und außerdem ein Video von ihren Brüsten, und nutzt als Druckmittel, dass er ihrem Vater alles erzählt.
Was zunächst wie eine hundertmal gehörte Klage über das böse, böse Internet wirkt, in dem kaum je etwas anderes passsiert als dass unschuldige Mädchen bösen Männern auf den Leim gehen, dreht noch einmal um 180 Grad. Und dann jeweils noch zweimal mindestens um 90 Grad.
Sie entpuppt sich als Polizistin, ein Lockvogel für Pädophile wie ihn. Er wiederum wird reumütig, will keine Minderjährigen belästigen, kann es aber nicht steuern: „Manchmal schaffe ich es, die ganze Scheiße abzuwaschen, aber am nächsten Morgen ist sie immer wieder da.“ Und sie, die Polizistin, ist nicht offiziell unterwegs – sie hat ihren freien Tag, und hat in dem Mann jemanden gefunden, auf den sie Druck ausüben kann. Warum? Weil sie jemanden sucht, der ihren Fetisch befriedigt.
„Grooming“, geschrieben von dem preisdekorierten Spanier Paco Bezerra, ist ein Stück, das mit der ständigen Verlagerung von Macht zwischen den beiden Protagonisten arbeitet. Wer hat die Oberhand? Wer kann den anderen kontrollieren? Erich Sidler, der Intendant des Deutschen Theaters Göttingen, hat sich für ein minimalistisches Bühnenbild entschieden, ein Kammerspiel vor zwei Videoleinwänden, die die meiste Zeit über nur zwei Bilder zeigen: Den Park und den Chat, in dem die beiden sich kennen gelernt haben. Das minimalistische Bühnenbild rückt die Psycho- und Machtspiele der Protagonisten in den Vordergrund – die Vanessa Czapla und Andreas Jessing teils schmierig, teils unschuldig, aber immer überzeugend rüberbringen.
Vor allem aber ist „Grooming“ ein Stück, das sexuelle Vorlieben und Fetische aus unterkomplexen Schwarz-Weiß- / Abartig-Nicht abartig-Kategorisierungen herauszuholen versucht. Der Pädophile ist nicht böse – er ist krank, und sich dessen bewusst. Die Polizistin will keine Vergeltung – sie muss Druck ausüben, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Am Ende zeigen die Leinwände etwas anderes: Eine dunkle, brutale Stop-Motion-Version von „Alice im Wunderland“: Wer sich in in den Hasenbau jenseits simplifizierender Zuordnungen gibt, der kommt so schnell nicht wieder raus.
Im Gegensatz zu Sidlers letzter Inszenierung am Deutschen Theater – „Homo Emphaticus“, in dem alle 26 Schauspieler des Ensembles auftraten – ist „Grooming“ nur ein kleiner Versuch auf der kleinen Bühne des Hauses, ein aus dem Handgelenk geschüttelter Essay. Gerade dadurch entwickelt die Inszenierung eine hohe Dichte, ein hohe Intensität und Intimität, der man sich kaum entziehen kann. Und sie wirft auch nicht weniger – sogar ähnliche – Fragen auf. Nach der Fiktion der Masken, die wir nach außen hin tragen, beispielsweise. Und dem, was passiert, wenn wir sie fallen lassen.