Foto: Szene aus „Samson” am DNT Weimar © Candy Welz
Text:Roberto Becker, am 12. September 2022
Für die Saisoneröffnung in Weimar hatte Operndirektorin Andrea Moses das richtige Händchen. Das Feuilleton mag Uraufführungen sowieso. Wobei auch das Premierenpublikum meist mitzieht. Orchester, Chöre und Musiker lieben es, wenn sie groß gefordert werden. Vor allem aber, wenn das, was sie zu spielen und zu singen haben, im möglichst voll besetzten Saal auch ankommt und verstanden wird. Auf einen Nerv – oder Vorwissen trifft. Ambitionierte Theaterleitungen wollen obendrein, wie ihr Publikum, musikalische und szenische Opulenz, große Oper – sei es in Ur- bzw. Wagnerdeutsch oder mit Zügen einer Grand Opera. Das Genre als Blockbuster-Event. Ob sie es nun offen zugeben oder nicht: wenn sie könnten, wie sie wollten, würden sie….
Im Falle von Joachim Raffs unter die Räder der Zeitläufte geratenen Oper „Samson“ kommt alles zusammen. Da wagnert ein Könner, was das Zeug hält! Nicht nur, dass der mit Franz Liszt zusammenarbeitende Schweizer Raff (1822-1882) sein Werk „Musikdrama“ nennt. Wie sein wirkungsmächtiger sächsischer Zeitgenosse hat er auch selbst und so ähnlich wie dieser gedichtet. Manche Formulierungen müssen damals in der Luft gelegen haben und keiner hat gleich Plagiat ge(t)wittert. Mag sein, dass er dem in kritischer Distanz Verehrten etwas entgegensetzen oder an die Seite stellen wollte. Einen musikalischen Anti-Lohengrin hat er jedenfalls zwei Jahre nach der Uraufführung der romantischen Schwanenritter-Oper durch Liszt in Weimar 1850 mit seinem fertiggestellten „Samson“ nicht im Sinne.
Mit der Uraufführung hat es seinerzeit nicht geklappt, in Weimar nicht und nicht anderswo. Immer kam irgendwas dazwischen. Und nachdem 1877, obendrein in Weimar, Camille Saint-Saëns „Samson et Dalila“ uraufgeführt wurde, gab der in Sachen Selbstvermarktung ohnehin nicht besonders ehrgeizige Raff sein eigenes Projekt auf. So wurde es jetzt zu einem Ausgrabungsschmuckstück, dessen Überwältigungspotenzial dem Chefdirigenten der Staatskapelle Dominik Beykirch auf Anhieb klar war, als er es entdeckte. Mit der Staatskapelle und einem passgenau zusammengestellten Protagonistenensemble hat er jetzt allen überzeugend klar gemacht, warum das so ist.
Extreme Liebesgeschichte
Raff hat sich die biblische Vorlage über die extreme Liebesgeschichte von Samson und Delilah etwas anverwandelt, wovon vor allem die Figur von Samsons Geliebter Delilah profitiert. Sie liebt ihn hier tatsächlich. Sie wird nicht des Geldes oder des Patriotismus wegen zur Verräterin an ihm, sondern lässt sich von ihrem Vater und den Scharfmachern manipulieren, die den König vor sich hertreiben, um Samson in die Falle zu locken, seiner Kraft zu berauben, ihn zu blenden und wegzusperren. Delilah ist hier auch Opfer und nicht nur Helfershelferin eines Racheplanes der anfangs Besiegten. Das passt heute sogar besser, als es vor 170 Jahren gepasst hätte.
Ähnlich wie „Lohengrin“ ist auch „Samson“ eine große Choroper. Der erweiterte, von Jens Petereit einstudierte Weimarer Opernchor läuft nicht nur mit seinem Gesang, sondern auch mit seinem gestalterischen, durchchoreografierten Auftritt zu den Ballettmusiken zur Hochform auf! Dramaturgisch ist das Kollektiv nicht einfach nur opportunistisches Echo der Verlautbarungen der Anführer, sondern hat eine eigene Meinung, die sich auch gegen deren Vorgaben richten kann. Etwa, wenn die Israeliten Samson Verrat vorwerfen, weil er Frieden machen und obendrein eine Tochter des gegnerischen Königs als Frau an seiner Seite haben will.
Betörend vertonte Zweisamkeit
Das alles ist mit Spannung aufgeladen. Die dramatische Zuspitzung treibt den Abend voran, da fällt die betörend vertonte Zweisamkeit der Liebenden geradezu aus dem Rahmen. In der Musik scheint aber nicht nur der damals erst aufsteigende Stern Wagner immer wieder durch. Wenn die auch schon mal auf der Bühne platzierten Bläser ertönen, dann lässt auch die Grand Opera grüßen. Manchmal sogar eine Prise Offenbach – aber in dieser Beziehung hört ja ohnehin jeder, was er hören will. Ausgekannt hat sich Raff jedenfalls und sein Handwerk beherrscht hat er auch. Das hört man selbst in den Ballettmusiken, die etwas leichtfüßig daherkommen und definitiv nichts mit Wagner zu tun haben.
Ohne Kompromisse
Allerdings steuert Regisseur Calixto Bieito hier eine verblüffende Idee bei. In dem mit Holz ausgeschlagenen Einheitsbühnenraum, dessen Decke sich absenken kann und die am Ende, wenn Samson den Tempel zum Einsturz bringt, in Bruchstücke zersplittert im Raum hängt, laufen Menschen von heute mit Koffern, Kinderwagen und allem möglichen ausgestattet wie aufgescheucht hin und her: eine Konsum- und Spaßgesellschaft. Hier braucht es eigentlich keinen einstürzenden Tempel mehr, diese Gesellschaft zerstört sich selbst. Das kann man schon als Zeitbezug interpretieren. Passend dazu sitzt ein resignierter Samson an der Rampe. Er hat den Glauben an sich, die Menschen und wahrscheinlich auch an seinen Gott längst verloren. Bieito geht es aber nicht um eine platte Vergegenwärtigung. Er konzentriert sich auf die Personen, versucht, deren innere Zerrissenheit oder auch Wandlung zu zeigen. Peter Sonn ist ein durchschlagend kraftvoll singender Samson, der sich mit ausgebreiteten Armen und nackter Brust in seine Rolle wirft. Vielleicht kommen die paar vokalen Unsauberkeiten am Anfang von einer von der Regieseite verordneten Bewegungsüberdosis. Sein Gegenspieler auf darstellerischer und vokaler Augenhöhe ist Uwe Schenker-Primus als zunächst besiegter König Abimelech. Er versucht einen Kompromiss zwischen Staatsraison und Liebe zur Tochter – aber Frieden und Versöhnung gehören nicht zu den Optionen dieser Geschichte. Die Scharfmacher – vom Oberpriester (Avtandil Kaspeli), über den ehrgeizigen und selbst auf Delilah scharfen Micha (Taejun Sun) bis zu Seran von Escalon (Oleksandr Pushniak) behalten die Oberhand und treiben den König dazu, seine Tochter als Waffe gegen Samson zu manipulieren. Und ihn mit ihrer Hilfe gefangen zu nehmen und zu blenden. Emma Moore ist eine leidenschaftlich dramatische Delilah, die die Wandlung zur selbstaufopfernden Begleiterin Samsons in den freigewählten Tod durchweg glaubhaft macht.
Dieser „Samson“ ist ein großer Opernbrocken, dessen Ausgrabung sich gelohnt hat! Er wurde angemessen gefeiert.