Diesen Grad macht NOVOFLOT über achtzig Minuten hinweg deutlich und balanciert auf ihm – im ehemaligen Berliner Stummfilmkino Delphi (heute: Theater im Delphi), das kürzlich durch die Dreharbeiten zur Serie „Babylon Berlin“ auch bei Nicht-Theaterfans bekannt wurde. Das Publikum sitzt in jeweils zwei engen Holzstuhlreihen links- und rechtsseitig des leergeräumten Saals und erlebt eine Collage aus Buchzitaten, Filmsequenzen, Livemusik und fulminantem, bewusst spröden Mahler-Gesang der charismatischen norwegischen Neue-Musik-Sängerin Tora Augestad. Die eigentliche Mahler-Musik wird zunächst ziemlich querständig durch die Tänzerin Ichi Go eingeführt, der das große sinfonische Werk aus ihren Kopfhörern zu Ohren dringt und die, ohne den Sinn der Worte zu verstehen, die Lautklänge des anfänglichen „Trinklieds vom Jammer der Erde“ als Deutschlernende aus fremdem Kulturkreis mitvollzieht. Die rustikalen Einwürfe des Blasorchesters Köpenick erinnern durchaus an die militärischen Mahlerschen Fernorchester, eine schlagende Idee: Es ist das, was als menschliche Äußerung übrig bleibt, wenn der Mensch mit einem so naiven Blick betrachtet wird wie unsere Rasse vermutlich Tiere und Pflanzen anschaut. Gambe, E-Gitarre – in die auch hineingesungen wird – und Miniklavier tilgen die letzten Spuren des spätromantischen Klangapparats, der ja doch nur ein weiteres Symbol des Größenwahns des Menschengeschlechts ist. Eine keinesfalls langweilige Aufführung, die an etlichen Stellen jedoch ein Maß voll gedanklicher Schnörkeleien weniger haben könnte.