Ensembleszene

Das Volk ohne Spuren

Yannick Hahnel: Die bleichen Füchse

Theater:Theater Pforzheim, Premiere:03.06.2016 (UA)Regie:Tom Gerber

Eigentlich müssten sie aufstehen, lautstark ihr, um es mit Stéphane Hessel zu sagen, „Indignez-vous!“ rufen. Allerdings nicht die Wutbürger und vermeintlichen Verteidiger des Abendlandes gegen Islam und Überfremdung. Nein, wovon Yannik Haenels radikaler Protestroman „Die bleichen Füchse“ (2014) erzählt, ist die Revolte der Entrechteten: der vergessenen Jugend in den Pariser Banlieues, den Kritikern eines zügellosen Kapitalismus, den ehrlichen Demokraten. Der Autor hat das vorauseilende Gegenmanifest zu Houellebecqs Untergangsvision „Unterwerfung“ geschrieben, in der in Frankreich ein Sharia-System errichtet wird, stark und emphatisch.

Dass es eines Aufstandes der Aufrichtigen und Machtlosen gleichermaßen bedürfe, davon ist man am Pforzheimer Stadttheater überzeugt, wo Tom Gerber just in seiner Uraufführung Haenels Roman auf die Bühne bringt. Im Zentrum steht der am Tag der Hollande-Wahl aus seiner Wohnung herausgeworfene Arbeitslose Jean Deichel (Sergej Gößner). In seinem Renault übt er sich als Beobachter der Straße, verharrt anfangs in seiner Passivität, bis er, konfrontiert mit dem Schicksal der Flüchtlinge, mehr und mehr in eine Revolutionsbewegung hineingezogen wird, die am Ende weite Kreise des Bürgertums der französischen Hauptstadt erfasst.

Wie fragil der Grund ist, auf dem der Westen sein Wohlstandsparadies gebaut hat, lässt sich bereits am hervorragenden Bühnenbild ablesen. Gelegen zwischen zwei Publikumsrängen, ist die Spielstätte mit Paletten ausgelegt. Und während der Protagonist über Leben und Welt nachdenkt, passiert um ihn herum allerhand: Migranten leeren Mülltonnen, Künstlergruppen schwadronieren trinkselig von Weltanklage-Performances, eine österreichische Kleinbürgerin brüllt durch den Fernsehapparat (den sie direkt auf dem Kopf trägt) ihren  Zorn über die Flüchtlingen heraus, und selbst Hitler ist in diesem vielstimmigen Chor als Karikatur präsent: Versehen mit einem ballonartigen Kopfaufsatz, auf dem der Bart und Seitenscheitel des Diktators durch schwarze Klebestreifen erkennbar werden, agitiert er gegen das bedrohliche Fremde. Er ist eben wieder da, erwartbar und verbraucht – viele dieser Bilder gelingen, manche sind banal, abgegriffen, unlustig oder bisweilen künstlich aufgeladen.

Mit seinen großartigen Schauspielern, darunter in wechselnden Rollen Henning Kallweit, Tobias Bode, Antonia Schirmeister, Jula Zangger, sucht Gerber nach den Großerklärungen für eine aus dem Lot geratene Welt und verliert sich selbst in der eigenen Flut an Ideen, Installationen und Bezügen. Liest sich Haenels Roman trotz aller Reflexionspausen als stringentes Erweckungsbuch, mangelt es dieser Inszenierung deutlich an Konzentration. Immerhin fördert man die Integration. Auch das ist ja inzwischen ein Wert, den sich die politisch gern gesehene Kunst allenthalben auf die Fahnen schreiben darf: Indem in einer durchaus eindrucksvollen Szene Pforzheimer Bürger – stellvertretend für die Flüchtlinge, dem „Volk ohne Spuren“ – ihre Pässe in eine brennende Tonen werfen, formulieren sie ein klares Statement gegen Rassismus.

Schade ist leider eines: Jene, die bei den letzten Landtagswahlen mit 24 Prozent AfD gewählt haben, waren sicherlich nicht anwesend. Wie übrigens genauso wenig, wenn man den Blick über das Publikum schweifen lässt, die 50 Prozent Migranten dieser Stadt. Weniger aus ästhetischen, dafür aber aus politischen Gründen bleibt zu hoffen, dass dieses Projekt am Ende vielleicht doch noch auf die Menschen außerhalb der behüteten Theaterstätte ausstrahlen mag. Also, liebe Bürger und Künstler, empört euch: Am besten auch auf den Straßen!