Foto: Fliegen kann es also auch! Das Wunderauto Tschitti Tschitti Bäng Bäng in Aktion. © Thomas Dashuber
Text:Wolf-Dieter Peter, am 3. Mai 2014
Einen Disney-Filmerfolg im Theater übertreffen? Schon während der Schlussakkorde hielt es viele nicht mehr auf den Sitzen… und noch vor der ersten Vorhangsöffnung stand das hingerissene Publikum im Prinzregententheater komplett auf und jubelte und klatschte und trampelte – nein, nicht nach einer Festspielsensation, sondern der ersten nichtenglischen, sprich: kontinentaleuropäischen Erstaufführung des Musicals „Tschitti-Tschitti-Bäng-Bäng“. Der Film-, Broadway- und Londoner Erfolg der Geschichte um das fahrende, schwimmende und fliegende Wunderauto ist bekannt.
Jahrelang bemühte sich Intendant und Regisseur Joseph Köpplinger um die Rechte für eine deutsche Einstudierung. Sein geplanter Hauptdarsteller musste sich sogar in London präsentieren – mit Erfolg. Prompt nutzte Köpplinger dann auch die beneidenswerten Vorteile des deutschen Theatersystems: Da das Staatstheater am Gärtnerplatz ja über ein komplettes Orchester verfügt, ließ er von John Owen Edwards anstelle der Tournee-tauglichen Schmalspur-Partitur eine erweiterte Orchesterfassung für 45 Musiker erstellen: Streicher-satter, differenzierter in den Bläsern, nahe an üppiger Filmmusik. Die dirigierte Michael Brandstätter so animiert, dass neben aller Musical-Schmissigkeit die Poesie des Schlafliedes „Sandmännchens Berge“ (hinter denen „Sorgenfrei-Land“ liegt) nicht unterging. Mehr noch: ohne pädagogischen Zeigefinger, schon gar nicht moralinsauer, sondern spielerisch amüsant führen die Autoren-Duos Sherman&Sherman (Musik) sowie Sams&Roderick (Bühnenfassung) Gegenpositionen zur derzeitigen Kinderüberforderung vor. Da wird das Aufgeben vor „unmöglichen Anforderungen“ pfiffig widerlegt und ein „Heraus aus der Asche, aus den Trümmern der Hoffnung, wachsen Rosen des Erfolgs“ vorgeführt. Vor allem aber wird der derzeit grassierende egozentrische Individualismus von einem Großvater, den zwei Kinder-Hauptfiguren und dann dem ganzen Kinderchor in „Teamwork, das heißt: zusammen – gemeinsam werden Träume wahr“ überzeugend „niedergesungen“ (Choreinstudierung samt bruchlosem Mitspiel mit Ballett und Solisten: Jörn Hinnerk Andresen).
All das aber ist in eine herrlich phantasievolle und darüber hinaus Phantasie anregende Spielhandlung eingewoben: um einen jungen, zunächst halb-armen Erfinder-Witwer Caractacus Potts und seine beiden dennoch munteren Kinder, einen mit britischer Selbstironie militärisch-postkolonial auf Indien fixierten, aber auch herrlich trotteligen Großvater und das 1921 tatsächlich existierende Rennauto mit dem Musical-Namen; dazu stößt die kapriziöse Bonbon-Millionärstochter Truly als letztendliche Ersatzmutter – nach mal gruseligen, mal grotesken Abenteuern in „Vulgarien“, wo das kinder-hassende Herrscherpaar samt „Kinderfänger“ entlarvend albern auf Spielzeug fixiert ist und deshalb das Wunder-Auto durch ein Gangsterduo beschaffen lassen will… in Monty-Python-Manier… all das kann eigentlich nur der Film vorführen…
Im Prinzregententheater ist der hinreißende Gegenbeweis zu erleben. Schon eine Auswahl des überbordenden Theaterzaubers, der temporeich wie nebenbei servierten Gags und der typengenau mal ernsthaften, mal erfindungsreich schrägen Personenführung von Köpplingers Regie würde Seiten füllen: faszinierender Erfindungsreichtum, Theaterpreis-würdiges Handwerk! Ebenso Ricarda Ludigkeits amüsanter Bambusstangen-Tanz, ihre entlarvende „Männer-Bunnies-“ im Kontrast zur raffinierten Spieluhren-Choreografie! Dazu der rasante Bühnenbild- und Licht-Zauber des Teams Leikauf-Fehringer-Mayerhofer-Heidinger samt dem hochprofessionellen Technik-Team (am Schluss zurecht auf der Bühne), auch die vom Cinemascope-Kino-Vorspann bis zu bühnengroßen Fahrt-, Schwimm- und Flug-Simulationen perfekt passenden Videos des Teams Ebert-Kurig-Mahnecke: Tutti Bravi!
Die von der Regie-Sensibilität Köpplingers nie über-, aber staunenswert geforderten Kinderdarsteller Amelie Spielmann und Marinus Hohmann, Sigrid Hausers grandios grotesker Sex-Samba als Baronin von Vulgarien, Erwin Windeggers herrliche Baron-Trotteligkeit, das halbakrobatische, absurd komische Gangster-Duo David Jacobs und Hannes Muik, Peter Lesiaks hübsch jungmännlich unbeholfener Caractacus neben Nadine Zeintls eher unlyrischer Truly, dann eine Fülle von hochdifferenziert gezeichneten Nebenfiguren bis zum völlig vergreisten, trotteligen Erfinder-Sextett, das in Fußketten tanzt (!): Tutti Bravissimi! Sie alle bewiesen, dass ein deutsches Theater nicht hinter New Yorks Broadway oder Londons West End zurückstehen muss. Aller berechtigter Jubel wird ein Team leiden lassen: das Kartenbüro – die kommenden elf Aufführungen werden definitiv nicht reichen!