Foto: Die Geschichte wirft ihre Schatten... Sarah Franke und Henning Hartmann in der Uraufführung der Romandramatisierung "Trutz" © Katrin Ribbe
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 5. Juni 2018
Grosser Wurf: Dusan David Parizek macht bei den Ruhrfestspielen aus Christoph Heins historischem Roman „Trutz“ einen spannenden und wichtigen Theaterabend.
Ein Zufall setzt die Geschichte in Gang. Das Landei Rainer Trutz hat sich ins trubelige Berlin der 1920er Jahre durchgeschlagen, um dort nach wenigen Tagen von einem Auto angefahren zu werden. Da liegt der knickerbockrige, norddeutsch stammelnde Junge fasziniert am Boden, geblendet von der ganz in kommunistisches Rot mit bourgeoisem weißem Pelz gekleideten Lilija. Einer Sowjet-Bohémienne der feinsten Sorte, die den angehenden Schriftsteller anschließend zum Klein-Kästner und Weltbühnenautor befördert. Wie dieser Erfolgsautor dann bürgerliches Fahrwasser ansteuert, ist von geradezu hinreißend komischer Poesie: Gleich drei Rainers in Badeanzug und –kappe umwerben die engagierte, christliche Sozialistin Gudrun und machen ihr einen Heiratsantrag – die Qual der Wahl entspricht hier historischer Faktentreue.
In dieser beiläufigen inszenatorischen Volte hat Regisseur Dušan David Parizek ein Grundproblem des Romans „Trutz“ von Christoph Hein brillant verdichtet. Wer einen historischen Roman schreibt, der zudem mehrere Generationen umfasst, muss zwischen den Klippen erzählerischer Teleologie und historischer Kontingenz hindurch. Alles steht und fällt mit der Frage der historischen Perspektive: Welcher Rainer der wahre ist, bleibt immer ‚Ansichtssache‘. Geschichte, selbst erfundene, ist nie monoperspektivisch, es sei denn die Geschichte der Sieger. Parizek schüttelt an diesem Abend nicht nur die Identitäten der Figuren zwischen seinen vier Darstellern Ernst Stötzner, Markus John, Henning Hartmann und Sarah Franke kräftig durch. Er lässt sie auch den Staffelstab der Erzählung mit spielerischer Nonchalance weiterreichen. Das Theater hilft so dem Roman auf seine multiperspektivischen Sprünge.
Denn Christoph Heins Geschichtspanorama ist gewaltig. Es umfasst das gesamte 20. Jahrhundert und hier vor allem die beiden Diktaturen mit ihren Ansprüchen, Geschichte neu zu schreiben bzw. umzudeuten, vulgo: zu fälschen. Rainer und Gudrun Trutz flüchten unter tätiger Mithilfe von Lilija in die Sowjetunion. Mit dem Eintritt ins sozialistische Paradies dreht Parizek kräftig an der Schraube der Groteske. Zur Vorbereitung gibt‘s Sonnenbrillen, Pelzmützen, Sprachführer à la „Rucki-Zucki-Russki“ und den aufmunternden Tschechow-Mutmacher „Nach Moskau!“. Dort kommt dann der kleine Maykl zur Welt: Ernst Stötzner rutscht mehrfach zwischen der breitbeinig pressenden Sarah Franke bäuchlings auf einer eingeseiften Plane entlang. Vater Rainer begegnet wild sächselnden Funktionären, muss nackt bis auf einen Krawatte Rede und Antwort stehen und wird schließlich aufgrund seines Weltbühnen-Artikels angeklagt. Parizek hat die Bühne mit drei Kiefernwänden versehen: einer Spielfläche und zwei gleichgroßen Wänden. Auf die linke der beiden ist ein Stuhl geschraubt, auf dem Hennig Hartmann als Opfer des Schauprozesses mehr liegt als sitzt, während oben Markus John als brutaler Richter thront und Unrecht spricht. Die Hierarchie kippt die Gesellschaft in die Vertikale, das Leben wird zur Rutschbahn in den Abgrund.
Die Inszenierung lebt von einer wunderbar spielerischen Leichtigkeit, die gelegentlich an den späten Jürgen Gosch erinnert. Die Bühne ist eine Bretterwelt, an den Seiten stehen Kleiderständer und Requisitentische. Zwei Overhead-Projektoren werfen nicht nur gewaltigen Schatten auf die Wände, sondern zeigen auch (gefälschte) Fotos oder Dokumente. Das zweite Themenfeld in Christoph Heins Roman berührt nämlich die Lehre der Mnemonik, einer Erinnerungstechnik. Die Familie Trutz hatte sich in Moskau mit dem Neurolinguisten Waldemar Gejm angefreundet, der Maykl und seinen eigenen Sohn Rem in dieser Technik unterweist. Nietzscheanische Geschichtsvergessenheit wird ausgespielt gegen die untrügliche Genauigkeit der Erinnerung. Maykl wird nach 1945 in die DDR abgeschoben, in der ihm nicht nur das Geschichtsstudium verweigert, sondern, als er als Archivar plötzlich die SS-Vergangenheit eines SED-Funktionärs aufdeckt, zusätzlich Kollaboration mit dem Westen vorgeworfen wird. Bei Pa?izek wird diese Geschichtsepisode quasi zur beruhigten Farce einer sich wiederholenden Geschichte. Die gleichen Komitees, die gleiche sächselnde Beflissenheit, die gleichen absurden Vorwürfe und die gleichen Fälschungen. Der Mnemotiker Maykl wird zum Paria und wird dies auch nach 1989 bleiben: Erinnerung spaltet, Vergessen führt zu falscher Versöhnung.
Regisseur und Bühnenbildner Dušan David Parizek gelingt eine überzeugend leichtfüßige, nie verharmlosende Interpretation, deren Surplus gerade in der passgenauen Ausrichtung der theatralen Mittel am Thema des Romans von Christoph Hein liegt.