Foto: Samuel Finzi, Henning Hartmann, und Markus John hinter Projektor © Katrin Ribbe
Text:Detlev Baur, am 16. Dezember 2016
Overheadprojektoren, auch Tageslichtprojektoren oder Polylux genannt, sind seltsame aus der Zeit gefallene, aber noch nicht völlig ausrangierte Hilfsmittel für Lehre und Präsentation. Über die Köpfe der Anwesenden hinweg werden Zeichnungen oder Texte mittels gespiegelten Lichts auf eine große Leinwand geworfen. Der Regisseur Dusan David Parizek nutzt derzeit intensiv Overhead-Projektoren als zeichenhafte Requisiten und schräge Lichtquellen. In seiner gefeierten Inszenierung von „Die lächerliche Finsternis“ (2014 am Wiener Burgtheater) ebenso wie in der in Deutschland teilweise unverstandenen „Schweijk“-Version von 2015 (Wiener Festwochen und Theater Bremen). In letzterem verband er die intensive und leidvolle österreichisch-tschechische Vergangenheit mit der Gegenwart. Und nun zeigt er am Schauspiel Hannover ein dezidiert bulgarisches Werk, die Bühnenfassung von Ilja Trojanows „Macht und Widerstand“. Nicht die K.u.K.-Vergangenheit, sondern die Ostblock-Vergangenheit eint hier Trojanows Werk und Parizeks persönlichen tschechischen Hintergrund.
Der Roman beschreibt mit eingestreuten originalen Dossiers der bulgarischen Staatssicherheit über einen politischen Häftling Leben und Verbindung des lange Jahre inhaftierten und gefolterten Anarchisten Konstantin und des mit seinem Fall befassten hochrangigen Geheimdienstmitarbeiters Metodi. Dabei beschreibt Trojanow eigentlich die „Aufarbeitung“ der Vergangenheit in den 1990er Jahren – und zwar als parallel erzählte Geschichten beider Männer. Konstantin versucht im Staatsarchiv vergeblich an alle Stasi-Unterlagen zu „seinem“ Fall zu kommen, auch alte Freunde und Leidensgenossen helfen ihm nicht weiter; Metodi wird währenddessen von einer jungen Frau überrascht, die behauptet er sei ihr Vater – so hat es ihre Mutter, auch eine ehemalige Lagerinsassin, ihr auf dem Sterbebett mitgeteilt.
„Macht und Widerstand“ ist ein nüchterner, dokumentarisch wirkender Roman. Parizeks Theaterfassung ist eine ideale Umsetzung, weil sie dem Geist und Buchstaben des Buchs folgt und das Werk zugleich entschieden aufs Theater bringt. Das Ergebnis ist ein ziemlich ernsthaftes Spiel um Macht und Ohnmacht, so anstrengende wie anregende knapp drei Stunden. Die (vom Regisseur selbst entworfene) Bühne besteht dabei vor allem aus einem Holzpodest mit schmalen Holzlatten, die auf der Fläche einen Quader andeuten. Neben den vier Darstellern wirken sechs Overheadprojektoren mit. Samuel Finzi, selbst aus Bulgarien stammend, spielt (weitgehend) den Konstantin: als gealterten, verschrobenen und zittrigen, und dabei ob der vergangenen und andauernden Machtlosigkeit auch oft zornigen Mann. Seine Anstrengung bei der Suche nach dem rechten Wort, sein lebenslänglicher Zorn, seine nüchterne Verzweiflung bilden den Kern des scheinbar utopielosen Spiels. Sein Gegenspieler ist der zugleich schmierige, rücksichtslose und dabei im Kern unsichere Apparatschik Metodi. Sarah Franke spielt die drohende Tochter Metodis wie auch die geduldige und liebevolle Nachbarin Konstantins; Henning Hartmann schließlich mimt allerlei Nebenrollen, vom Hund bis zum Verfassungsrichter durchgehend feige Mitläufer. Das Zusammenspiel der vier einschließlich Rollenwechseln und Spiel mit Tuba und Trompete ist überzeugend und schlüssig.
Kurz vor der Pause übernimmt Konstantin einmal in seinem vergeblichen Aufarbeitungsfuror die Rolle des Quälgeists Metodi, die drei anderen spielen das anfangs noch entspannt wirkende Folteropfer Konstatin. Geblendet werden sie durch das Licht einiger Projektoren. Später setzt sich Finzis Konstantin gleichsam ins Licht der Vergangenheit. Dabei beschreibt die projizierte Schrift aus Spitzelakten nicht nur die Figur, sondern prägt sie auch unentrinnbar. Das Rollenspiel ist in Parizeks Theater Ausdruck des Vorgedruckten (aus Buchvorlage wie „Geschichtsschreibung“), kein improvisiertes Lust-Spiel. Kurz vor seinem, „Macht und Widerstand“ abschließenden, Tod wird Metodi auf seiner entgleisenden Geburtstagsfeier unter Genossen selbst zum Folterspielopfer. Die Ernsthaftigkeit, mit der in der Inszenierung Spiel und Geschichtsaufarbeitung verbunden werden, ist außergewöhnlich und frei von jeder Verkrampftheit.
Dieses Historienspiel aus einem fernen, kleinen Land kümmert sich scheinbar gar nicht um Brüche und Wunden im Deutschland des Jahres 2016 oder um Mord und Krieg im sehr nahen Osten Aleppos. Die exakte Beschreibung dieses doppelten Falles zeigt aber: Demokratieverächtung ist keine Erfindung der neuen Rechten. Vor allem aber zeigt die Inszenierung, dass Wert und Umgang mit Fakten in der Politik – die das Leben aller prägt und das Leben vieler unmittelbar bestimmen bzw. zerstören kann – ein zentrales Thema in einer offenen und womöglich gar gerechten Gesellschaft sein muss. Diese Geschichte-n-Stunde in Hannover bietet damit unglaublich aktuelles politisches Theater. Sie projiziert vergangene Geschichten auf uns, zeigt wie präsent Vergangenes oder vermeintlich Fernes uns erhellen kann, so wie auch diese seltsamen Projektoren auf der Bühne.