Foto: Miriam Berger und Frank Siebenschuh in "Oinkonomy" © K. U. Oesterhelweg
Text:Jens Fischer, am 18. Oktober 2020
Schlurfig gelangweilt stapft Miriam Berger auf die finster leere Bühne. Dienerin und Stichwortgeberin der Protagonistin des Abends wird sie sein, Inspizientin der Aufführung, Bühnenarbeiterin und auch für etliche Rollen einspringen. „Vasallin“ lautet die Rollenbeschreibung. Zuerst lässt sie ein riesiges Rolltor öffnen. Tritt dann mit mürrischem Schweigen an die Rampe und startet Morgengymnastik als Publikumsanimation. Strandurlaubmusikfetzen erklingen. „Welcome to Aiaia. Ouzo, Ouzo, Abrakadabra“. Das Wort ergreift Frank Siebenschuh als damenhafter mondäner Herr in Abendgarderobe, Longdrink in der Hand, divenhaft pompös die Gesten. Die Zuschauer spielt er als Touristen an, von einem Kreuzfahrtschiff auf seine Insel Aiaia seien sie gespuckt. Wer ein wenig altphilologisch vorgeprägt ist und antike Göttergeschichten noch locker erinnert, der könnte ahnen: Das geht nicht gut aus. Siebenschuhs Anspielung, „tierisch glücklich“ zu sein, und sein grunzend intoniertes Schweinequieken sind eine letzte Warnung. Aber niemand verlässt den Saal.
Und so offenbart sich die Grande Dame als Circe, Helios‘ hexenhafte Tochter, die alle angespülten Flüchtlinge, Eroberer und gedankenlos herbeigereisten Urlauber in Tiere verwandelt und ihrem Privatzoo einverleibt. Die Gefolgsleute des Odysseus wurden einst schnöde verschweint. Dem Chef aber – deswegen wirkt Circe bis heute auch im Duden fort – hat sie zum Bleiben und Beischlaf becirct, ihm schließlich Telegenos geboren. Den Freunde heute Mr. T nennen. Mit dieser kurzen Exposition ist das Grundgerüst der Uraufführung ausgebreitet, die im mythologischen Gewand von gleich um Ecke stattfindenden Ungeheuerlichkeiten erzählt. Denn Mr. T kann als milliardenschwerer Kotelettkönig Clemens Tönnies assoziiert werden, der die Zauberkunst seiner Mutter nutzt, Massentierhaltung zu etablieren, inklusive gigantischem Schlachthof und ökonomisch höchst effizienter Fleisch- und Wurstfabrik. Aiaia muss Rheda-Wiedenbrück sein im Kreis Gütersloh. Die Heimat des Tönnies-Imperiums.
Gerade erst im Juni war bundesweit die Empörung groß, als eben dort mehr als 1.000 Mitarbeiter mit Corona infiziert wurden, der gesamte Kreis in Lockdown-Geiselhaft war und all die folgenden Abstrich-, Labor-, Quarantänisierungs-, Schutzausrüstungskosten sowie Steuermindereinnahmen sich auf etwa zehn Millionen Euro summierten. Nach jahrelangem Wegducken der Behörden und peinvollem Verlassen auf freiwillige Vereinbarungen wurde erst jetzt durch die Pandemie die Situation der Leiharbeiter zum Politikum. Ging es bisher bei Kritik an Tönnies um das Tier-, Umwelt- und Klimawohl, wird nun das Menschenwohl mitverhandelt. Eben noch in der Presse, vier Monate später schon auf der Bühne des Theater Gütersloh. Vorbildlich, wie schnell der künstlerische Leiter Christian Schäfer da reagiert hat! An Lyrikerin Nora Gomringer erging der Stückauftrag, an sich selbst der Uraufführungs-Regieauftrag. „Oinkonomy“ lautet der Titel, ein sprachspielerischer Jux aus Schweine- und Ökonomie-Sprache.
Der Text ist in der Kürze der Produktionszeit kein Langgedicht aus einem Guss geworden, sondern ein sagenhaft anspielungsreicher Spaß zwischen kabarettistischer Aufklärungs- und moralischer Anregungsarbeit. Gomringer lässt über das Unternehmen des Telegenos sagen: „Aiaia hat sich selbstverpflichtet, 1a-Ware abzuliefern, was in der Regel heißt: Viel und schön viel: billig!“ Der Fleischhunger steht am Pranger und es erklingt der Verweis: „Die Menschen essen so viel Fleisch, dass sie selbst mehr Fleisch werden.“ Die menschenverachtenden Arbeits- und Wohnbedingungen bei Tönnies & Co. vergleicht Gomringer mit einem Gulag, die Aushilfsmetzger selbst seien „arme Schweine. Abgebrüht und Schicht-zerlegt, mit miesen Löhnen von zu Hause weggetröstet. Unversichert, ungekannt, sprachlos“. Die Aufzucht-Quälerei eines zum Rohstoff degradierten Wesens wird beschrieben und Werbejargon der Schweinesystem-Unternehmen höhnisch rezitiert. Als Zuspieler sind in chorisch-sakrales Raunen gewandete O-Töne eines Metzger-Lehrlings zu hören: Anklagen der sadistischen Neigungen von Kollegen.
Miriam Berger berichtet hingegen mit frisch konvertiertem Vegetarierinstrahlen vom Tierleid, aber auch aus der Ich-Perspektive eines Schweins: „Unsere Augen landen in den Kollagencremes, die die Dekolletés erhalten. Ist das nicht zynisch? Was den Blick ziehen soll, ist voller Augenschmiere, Augenwischerei. Ist alles faltenfrei, ist Schwein dabei. Schwein haben – das hat ganz unterschiedliche Bedeutungen.“ Frank Siebenschuh gibt Mr. T durchweg als dümmliches Kind mit Killerneigungen – etwa wenn er von einem Hochsitz aus quietschvergnügt im Heldenmodus Wildschweine abknallt. Gomringer kann sich auch Witze nicht verkneifen: Was ist der Unterschied zwischen Männern und Schweinen? Schweine verwandeln sich nicht in Männer, wenn sie betrunken sind…
Die Inszenierung des locker gewirkten Fließtextes nimmt dessen Performance-Charakter nicht an, hat aber auch keinen ästhetisch homogenen Ansatz, sondern bebildert episodenhaft. Erzählt Circe von den übers Meer kommenden Opfern ihre Verwandlungskünste, übersetzt Berger das in wellenartige Armbewegungen, während im Hintergrund Videobilder einer kräuselnden Wasseroberfläche laufen. Geht die Rede vom herbeischippernden Vater des Telegenos, rollt Berger in einer Alu-Lore über die Bühne. Wenn Circe das Land des Publikums als das billiger Deals beschreibt und ihres als das der Magie, lässt Berger eine Flamme in ihrer Hand erblühen. Sinnfällig gelingen großformatige Bilder im großen Theatersaal – wenn etwa das Raus- und Schönreden des Mr. T auf eine Unzahl TV-Bilder projiziert wird, ein medialer Overkill als Parodie der hohen Redekunst des antiken Theaters. Herausragend die Szene, als Berger das Gewicht des Eisernen Vorhangs zu tragen scheint und über die Mitschuld-Last an der fleischindustriellen Praxis räsoniert. Allerdings leidet das Stück auch ein wenig unter der Last dieses ständigen Ins-Gewissen-Redens. Aber es ist halt eine wohlbekannte Tatsache: So lange billiges Fleisch massenhaft gekauft wird, wird es auch massenhaft unter den bekannt elenden Bedingungen produziert. So funktioniert nun mal unsere Wirtschaft.
Im nonchalanten Tonfall das Befremdliche nicht von außen kommend zu beschreiben, sondern in uns selbst zu verorten und uns so hineinzusaugen in diese Geschichte, mit der die meisten Menschen wahrscheinlich so konkret lieber nichts zu tun hätten, das gelingt Gomringer/Schäfer mit diesem dramatisch humorvollen Schnellschuss. Als solcher ist er in Gütersloh ein Volltreffer.