Foto: Szene mit: Katja Gaudard, Silvester von Hösslin, Beatrice Frey, Jonas Steglich, Dominik Maringer, Vanessa Loibl © Katrin Ribbe
Text:Jens Fischer, am 18. Februar 2016
Na, das kann ja heiter werden. Fritz Haarmann, Musicalstar. Für diese Ankündigung bekam das Staatstheater Hannover mahnende Briefe, die regionalen Medien setzten sich mit auf die Empörungsschaukel. Ja, dieser Haarmann. Urhannoveraner! Dort geboren. Dort gestorben. Und wie: 1924 per Fallbeil geköpft. Warum? 24 Jungen aus dem Bahnhofsmilieu soll der kleinkriminelle Polizeispitzel sexuell ausgenutzt, per Raubtierbiss getötet, metzgergerecht zerlegt, ihre Habseligkeiten und auch ihr zu Wurst und Sülze verarbeitetes Fleisch verkauft haben. Vielfach verfilmt, dramatisiert, zwischen Buchdeckeln analysiert wurde die reale Horrorgeschichte. Warum soll nun nicht der Schlächter von Hannover in der doch immer alles und jeden so schön süßlich verwurstenden Musicalkunst thematisiert werden? Die unheimliche Faszination von Tod bringenden Gegenstände, Pflanzen und Menschen ist ja durchaus üblich in dem Genre: Es gibt ein „Titanic“-Musical, „Little Shop of Horrors“, „Jekyll & Hyde“, etliche Vampir- und Jack-the-Ripper-Versionen. London zeigt Hannover wie es geht – und machte seinen Serienmörder zur Touristenattraktion.
So mag auch Nis-Momme Stockmann gedacht haben, als er den Auftrag für ein Stück erhielt, das Hannover betreffen, Hannoveraner berühren und das Schauspielhaus füllen soll. Mit dem Philosophen Leibniz, Dadaisten Schwitters oder irgendwelchen Welfen vielleicht? Nein, Stockmann dachte an Hannover 96, Oliver Pocher und eben Haarmann. Da bei Nennung dieses Namens der Intendant und die Chefdramaturgin laut Programmheft „vehement den Kopf geschüttelt“ haben, nahm er genau dieses Thema. Wollte aber nicht einfach noch mal die Psychopathologie sezieren, ein Monster malen oder Die-Gesellschaft-ist-schuld-Geschichte erzählen – über das homosexuelle Missbrauchsopfer in schwulenfeindlicher Zeit. Aber was dann? Haarmann steppend singen lassen? Darf man das, erzählt das was Neues? Oder ist das nur pietätlos gegenüber noch lebenden Nachfahren der Familien der Haarmann-Opfer? Jedenfalls tritt nun in „Amerikanisches Detektivinstitut Lasso“, das stand auf den Visitenkarten des Täters, eine Haarmann-Figur mit entindividualisierender Gesichtsmaske und Hackebeil auf, will ihre Show starten, wird aber prompt vom Ensemble gestoppt. Weil Stockmann sich selbst diese Szene verbietet. Was erzählt das? Stockmann vermittelt es nicht. Macht aber ehrlich deutlich: Ihm fiel einfach sonst nix ein. Und so schrieb er ein Musical zum „Scheitern am Musical über Fritz Haarmann“. Und scheitert auch damit.
Die zwischen radikal fordernd bis scheu räsonierend entwickelte Rolle des Autoren ist in Hannover vielstimmig als Stockmann-Lookalikes auf der Bühne zu sehen – und wird auf satirisch gezeichnete Typen gehetzt: Intendant, Dramaturg, Lektorin. Debattiert werden soll über Stockmanns Zweifel an der Repräsentanz gesellschaftlicher Probleme in der Kunst. Weg mit den leicht abzunickenden Stückaussagen des Anprangertheaters, lautet die Forderung. Kapitalismus sei scheiße, Pegida doof. Wisse doch fast jeder im Publikum. Man sollte beispielsweise nicht den abstrakten Rassismus da draußen in der Welt kritisieren, sondern den konkreten in uns angehen, sagt ein Stockmann-Darsteller. Sucht er nun dem Haarmann in sich? Fehlanzeige. Mit immer neuen Ansätzen und grobmaschig gehäkelten Metadebattenschlaufen wird vom langweiligen Theater erzählt, das immer nur dasselbe denkt und macht. Zur Verdeutlichung macht Stockmann ebenfalls genau dasselbe: endlos redundant.
Der Versuch, das Scheitern des Autors darzustellen als Scheitern am Theater oder grundsätzlich an der Unfähigkeit (dem Unwillen?), über sich selbst hinauszudenken – suppt immer mehr in eine nervend „selbstreferenzielle Nabelschau“ des Autors. Als das auf der Bühne gesagt wird, gibt es höhnischen Szenenapplaus. Anerkennung aber dafür, wenn aus Leibern der geschmähte Haarmann-Fries Alfred Hrdlickas nachgebildet wird, den das Sprengel-Museum bisher verstecken musste. Diese Blicke hinter die Kulissen Hannovers und des Theatermachens, das Abarbeiten an Sachzwängen, Konventionen, Eitelkeiten und lokalen Neurosen, ist allerdings auf dieser Bühne schon deutlich witziger zu erleben gewesen – in der Insider-Groteske „Die römische Octavia“ des Dramaturgen Christian Tschirner.
Die Aufführung selbst bemüht sich sehr gekonnt um Unterhaltungswerte. Regisseur Lars-Ole Walburg spielt lässig mit Musicalklischees, läst ironisch tänzeln, mal chorisch prägnant sprechen, mal lamentierend monologisieren. Niedlich gesungen wird auf streichzart tuckernden, von Klangmelancholietau beschwerten Wohnzimmer-Electro-Beats des live Tasten drückenden Les-Trucs-Duos. Hübsch rauf und runter transponierte Schlagermelodien haben sie komponiert. Das famose Ensemble agiert Soap-Opera-keck. So dass ab und an vergessen werden kann, dass Theater hier eben nicht zeigt, was es will, sondern nur hin und her, kreuz und quer mit Leitartikelvokabular buchstabiert, was es nicht will. Walburg zitiert dazu schön beiläufig auch Tops und Flops und Gags der Stadt- und Aufführungsgeschichte seiner Hannoveraner Intendanzzeit. Als wäre dieser Abend der letzte dieser Ära. So hat Walburg auch zu Aufführungsbeginn den Begriff Durchreise als Buchstabenballett choreographiert – und lässt mit Stockmann am Ende behaupten, dass die Durchreise durch Themen, Stoffe, Stücke nicht reiche, man bei eigenen Wahrheiten ankommen, sich verheimaten (in Hannover?) müsse. Das ist weder dem Autor noch dem Regisseur mit dieser Uraufführung gelungen. Buhrufe gab es. Und freundlichen Applaus fürs Ensemble.