Foto: "Rheingold" in der Bochumer Jahrhunderthalle. Jane Henschel (Erda) macht ihre große Szene zusammen mit dem Dirigenten Teodor Currentzis zum Höhepunkt der Aufführung. Im Hintergrund die Götter. © Michael Kneffel / Ruhrtriennale
Text:Andreas Falentin, am 13. September 2015
Es hat sich was verändert in Musiktheater-Deutschland. Vor 15 Jahren löste Peter Konwitschny mit seinen Hamburger „Meistersinger“ Skandal und Publikumsunmut aus, weil er die Musik mit einer theatralischen Aktion reflektierte und unterbrach. Aktuell unterbricht Johan Simons in der Bochumer Jahrhunderthalle „das Rheingold“ auf dem Weg nach Nibelheim. Fade out der Ambosse. Musiker aus dem Orchester hämmern gegen Wände und Säulen und sorgen zusammen mit den an anderen Stellen fast unmerklich eingesetzten Techno-Sounds von Mika Vainio für aggressive Akustik. Vor dieser hält der Schauspieler Stefan Hunstein, der sich ansonsten als servil-geiler Kammerdiener irgendwie durch Wagners episches Vorspiel zu lavieren hat, einen Wut-Monolog im Jelinek-Stil. Er startet mit Edda-nahen Walhall-Visionen, grüßt von ferne das kommunistische Manifest und kommt zügig in der Gegenwart an, um unserer Lust-und-Gier-Gesellschaft einen mitzugeben („Schöner als Geld zu haben, ist es, das Geld jemandem wegzunehmen!“) – und die zahlreichen zur Premiere angereisten, von Bundestagspräsident Norbert Lammert angeführten Granden aus Kultur und Gesellschaft nicken beeindruckt und zustimmend. Es hat sich was verändert.
Die Geschichte des Ruhrgebiets wolle er erzählen mit dem „Rheingold“, lässt Johan Simons im Programmheft ausrichten. Er hat selten gesehene Unterströmungen im Altbekannten aufgespürt. So erzählt er die Handlung explizit, und oft mit schöner Zärtlichkeit, als Reihung von Geschwisterkonflikten, malt deren Aneinander-Gefesselt-Sein mit nicht selten neurotischen Folgen mal rüde, mal poetisch, mal witzig. Zudem findet er kraftvolle Bilder, verdoppelt die Rheintöchter mit Schaufensterpuppen und vernäht all die das Werk durchziehenden destruktiven Kräfte zu einem faszinierend leisen Schlusstableau. Aber die Geschichte des Ruhrgebiets ist vielfältig und erzählt sich nicht, indem Alberich Kohle statt Gold heimschleppt und ein großer Schauspieler die Geschichte der Ausbeutung sprachlich gestaltet.
Bettina Pommer hat drei Ebenen in die Jahrhunderthalle gebaut. Unten, in Wasserbassins voll Gründerzeitschutt, liegen die Rheintöchter, befehden sich Alberich und Mime, hört Erda wissend zu. In der Mitte, „auf der Erde Rücken“, befinden sich nicht die Riesen, die kommen von hinten, sondern das Orchester. Oben mimt eine stilisierte, weiße Gründerzeitfassade das geschlossene Walhall. Das Podest davor ist der Tummelplatz der Götter. Denkt man. Denn spätestens, wenn Wotan und Loge in der zweiten Szene mehrfach durchs Orchester flanieren, wenn Fafner (Peter Lobert mit noch etwas ungeschliffenem, prachtvollem Riesenbass) mit seiner ‚schönen Stelle‘ („Gold’ne Äpfel…“) gar durchs Publikum auftritt, verliert das Raumkonzept seine dramaturgische Funktion, wird die Bühne ortlose Dekoration. Da hilft es nichts, dass die Nibelheim-Szene große Dichte gewinnt, weil alle vier beteiligten Sänger in Bergmann-Kleddage ständig auf der Bühne präsent und intensiv beieinander sind und Simons die schwierigen Verwandlungsszenen mit „protestantischem Minimalismus“ (noch einmal das Programmheft) in den Griff bekommt. Allerdings fallen gerade hier der ausstrahlungsarme, geradezu phlegmatische Mika Kares trotz seines balsamischen Wotan-Basses und der erfahrene Peter Bronder, dessen Loge in einem Meer aus Standardgesten ertrinkt, zu stark ab gegen Leigh Melroses Alberich mit seiner intensiven Körperlichkeit und seinem federnd-expressiv geführten, hellen Bariton. Auch wenn er das so vielleicht unmikrofoniert in einem großen Opernhaus nicht wiederholen könnte – eine Ausnahmeleistung.
Die auch ermöglicht wird durch den eigentlichen Star der Aufführung, den effekt-sicheren Fänger des Event-Publikums, das neue Wundertier der internationalen Klassik-Szene. Teodor Currentzis hat eine gewaltige Visitenkarte abgegeben an der Ruhr und bei Wagner. So organischer Klangfluss inclusive geradezu magischer sinfonischer Verdichtungen bei derart schwierigen akustischen Bedingungen war selten. So genaue Arbeit mit den Sängern, vor allem der bildschön singenden und außergewöhnlich phrasierenden Maria Riccarda Wesseling als Fricka, auch. Dazu spürt Currentzis viele Einzelheiten auf, grandios zu hören etwa in der kurzen Mime-Erzählung. Und in der Erda-Szene klopft er zusammen mit der Opern-Veteranin Jane Henschel gut zehn Minuten lang an die Tür zum Wagnerhimmel. Hauchzart und hochdramatisch. Geheimnisvoll und tiefenentspannt. Hier folgt das Publikum atemlos. Das nimmt es mit nachhause. Wagners Sieg über die Geschichte des Ruhrgebietes. Sozusagen.