Foto: Sänger und Performer Damian Rebgetz mit „We had a lot of bells” bei den Wiener Festwochen © Matthias Heschl
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 31. Mai 2022
Ein einzelner, dunkler Glockenschlag erfüllt die nebelige Düsternis, beschallt in breiten Wellen den Raum und vermengt sich schließlich mit sachte auftauchenden, synthetischen Klängen, die an fern verklingende Orgeltöne erinnern, ehe sie sich in Echos zerstreuen. Nur langsam lichtet sich die Szenerie. Gestalten in priesterlichen Gewändern durchschreiten den Raum und schlagen, angeleitet durch Handzeichen ihres schamanistischen Führers, neun unterschiedlich große Glocken, deren Klänge sich mit den elektronisch verfremdeten Sounds eines Cellos und eines Klaviers zu einem meditativen Klangraum verbinden.
Keine Glocken-Nostalgie
„We had a lot of bells” ist die Inszenierung betitelt, an deren Beginn der 1978 in Australien geborene Regisseur, Schauspieler, Autor und Komponist Damian Rebgetz vors Publikum tritt und erklärt, ihm gehe es keinesfalls um Glocken-Nostalgie. Sondern um das kulturelle und historische Erbe europäischer Kirchenglocken, deren Klang bis heute eine Gemeinschaft stiftende Funktion habe. Die Grundlage seiner Performance, uraufgeführt bei den Wiener Festwochen als Koproduktion mit dem Schauspielhaus Wien, bilde das Werk des französischen Historikers Alain Corbin, „Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts” aus dem Jahr 1994.
Schaffte der sechsminütige musikalische Prolog „9 Bells” (Komposition: Robert Schwarz) noch eine Art verheißungsvollen, zwar atmosphärisch bedeutungsschwer in Nebel getauchten, aber zumindest theatralisch-sinnlichen Auftakt, so bot Rebgetz in den darauffolgenden zwei Stunden einen formal beliebigen Abgesang auf das Genre der sogenannten Stückentwicklung. Unstrukturiert schwankend zwischen Lecture-Performance, Turnstunde und Sit-in mit Jungschar-Liedern, plätschert der Abend unausgegoren und bar jeglicher Dramaturgie mit einem seichten Text dahin, der lediglich die Sehnsucht nach der Lektüre von Corbins fundierter Glocken-Studie weckt.
Über die kommunikative Funktion des Läutens
Keuchend und schwitzend trainieren Sophia Löffler, Til Schindler und Damian Rebgetz in langen, farbigen Kleidern (Kostüme: Veronika Schneider) mit Kettlebells, sogenannten Kugelhanteln, um als „Glöcknernnnie” (die polnisch gegenderte Form von Glöckner!) im ländlichen Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts die vielen Glocken zu läuten. Sie plaudern über die damals den Alltag strukturierende, kommunikative Funktion des Geläuts, das die Zeit signalisierte, aber auch Hochzeiten, Taufen und Begräbnisse verkündete und dabei stets dem Numinosen respektive der Herrschaft der Kirche verbunden war. Begleitet von einem Trio aus Cello (Maiken Beer), Klarinette (Viola Falb) und E-Klavier (Sachiko Hara) wird gemeinsam leidlich gesungen – mal im Kanon, mal mit Rebgetz als falsettierendem Solisten. Im Kreis wird über ein Graspodest gewandert und dabei von der Dezimierung der Glocken im Zuge der Säkularisierung während der Französischen Revolution berichtet: „Na gut, du wirst sterben Glocke, ja, sorry”, sagt Löffler zur größten. Schließlich sind alle Glocken abgenommen und die letzte wird nostalgisch unter einem schwarzen Tuch gleichsam begraben.
Gegen Ende sitzen alle AkteurInnen gemeinsam in einem auf die karge Bühne gerollten, bürgerlichen Musikzimmer (Bühne: Romy Kießling) und singen traurige Songs, deren dröge Langatmigkeit vom Auftritt der dreiköpfigen Popband „Session in her room” im Epilog noch quälender übertroffen wird: Anstelle eines durch ästhetische Mittel sinnlich und gedanklich erzeugten Erkenntnisgewinns beschließen den Abend drei redundant-sentimentale Pop-Schnulzen, zu denen das Ensemble einen Sektkorken knallen lässt. Wäre es doch bei einem einzigen Glockenschlag geblieben.