Foto: Simon David Grossenbacher als grüblerischer Reformator – Szene aus Felix Mitterers „Luther“-Spektakel bei den Volksschauspielen Ötigheim. © Jochen Klenk
Text:Eckehard Uhlig, am 18. Juni 2017
Eckehard Uhlig
Felix Mitterer
Luther
Premiere
Uraufführung
Volksschauspiele Ötigheim
Rebekka Stanzel
Frelicht
Theater
Schauspiel
Luther boomt im Reformationsjubeljahr auf dem Theater. Für die 1906 in pädagogischer Absicht von dem katholischen Pfarrer Josef Saier begründeten „Volksschauspiele“ auf Deutschlands größter Freilichtbühne im mittelbadischen Ötigheim, zu denen pro Vorstellung rund 4000 Zuschauer aus allen Bevölkerungsschichten und Generationen in die überdachte Arena pilgern, hat der katholische Österreicher Felix Mitterer, ein ausgewiesener Spezialist für das Genre des Volkstheaters, (als Beitrag zur Ökumene?) sein nun uraufgeführtes Protestanten-Schauspiel „Luther“ geschrieben. Ihm und seiner Regisseurin Rebekka Stanzel sind dabei große naive Bilder gelungen, die sich wunderbar in das grünende Naturtheater mit seinen imposanten Bühnenbauten einfügen.
Hier hat der Begriff „Volksschauspiele“ nicht nur wegen der Publikumsmassen – die übrigens von einer hervorragenden Organisation auf Parkplätzen, an Theaterkassen und im gastronomischen Pausen-Bereich betreut werden – noch seinen ursprünglichen Sinn. Denn vor der Kulisse einer mächtigen, aus (Pappmaché-)Quadern gemauerten Klosterburg samt ausladender Freitreppe tummelt sich allerhand Volk. Bis zu 600 Amateurdarsteller (einschließlich einiger Profi-Schauspieler) treten mit großen und kleinen Rollen aus den Riesenchören hervor. Auch Tanzgruppen und Instrumentalensembles wirken mit sowie eine auf breit angelegten Wegen sensationell agierende Reiterei.
Da sind historisch bunt kostümierte Bauern und Bäuerinnen unterwegs, Mönche und Nonnen, Bürger, Gaukler, Studiosi, Doktoren und Pfaffen, mit Spießen bewaffnete Landsknechte und sich neckende Buben und Mädchen. Von Zeit zu Zeit galoppieren geharnischte Reiter vorbei, auch fahren vornehme mit Pferden bespannte Kutschen vor, denen Würdenträger entsteigen. Alles fügt sich zum ausstattungsopulenten Ötigheimer Inszenierungsstil: Einfache, mit Kraftsprüchen gewürzte Sprache, behäbige Abläufe (die zu Längen neigen), Chöre, die im klassischen Sinn manchmal sehr lautstark und unterstützt von Bläsern und Trommlern, Volkes Stimme vertreten, Luther-Lieder („Ein feste Burg ist unser Gott“) anstimmen oder in Brecht-Weill’scher „Mutter Courage“-Manier aufmüpfig singen (Musik Hans Peter Reutter).
Der Ablauf der 23 Bilder zeichnet ausschnitthaft Martin Luthers Weg von seinem (1505 erfolgten) Eintritt in das Erfurter Augustiner-Kloster bis zur Schlacht bei Frankenhausen (1525) nach, als aufständische Bauern in einem von den Fürsten befohlenen Blutbad enden. Teils handelt es sich um Szenen von höchster Dramatik. So auf der ins Publikums-Halbrund hinein gebauten Vorderbühne, wo der Fürsten-Finanzier Jakob Fugger (Martin Kühn) von Kurfürst Albrecht von Brandenburg (Johannes Kühn) die Einführung des Ablasshandels fordert: Eine Hälfte des Erlöses soll dem Papst zum Bau des Petersdomes in Rom zukommen, die andere die Schuldentilgung des Fürstbischoffs befördern, der während des Disputs auf seinem Thronsessel einer Konkubine zwischen die Beine fasst. Anschließend lässt der Dominikaner-Mönch Johann Tetzel (Matthias Götz) in einer an mittelalterliche Mysterien-Spiele erinnernden Szene (als Spiel im Spiel) senseschwingend Gevatter Tod auftreten und Fegefeuer-Höllenstrafen mit Hieronymus Bosch-Monstern ausmalen, um die verängstigt zuschauenden einfachen Leute seinen Ablassbrief-Händlern zu zutreiben. Wenig später lässt Luther seine 95 Thesen (gegen den Ablasshandel) an Kirchentüren anschlagen.
Alles läuft auf einen theatralischen Höhepunkt zu, als (am 18. April 1521) Luther vor Kurfürsten und Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms seine Schriften widerrufen soll und mutig widersteht. In seiner Borniertheit schätzt der päpstliche Ankläger Aleander (Gerold Baumstark) die Situation völlig falsch ein, während der vom Volk bejubelte Mönch und Professor aus Wittenberg, mit der Bibel argumentierend, den Papst angreift und seine Thesen verteidigt. Natürlich steht Simon-David Grossenbacher, der die Mammut-Rolle als Luther exzellent ausspielt, immer im Zentrum. Äußerlich entspricht er zwar kaum dem tradierten Bild des wohlbeleibten, oft derben Reformators und wirkt wie ein vergeistigter Asket. Aber Überzeugungskraft und Glaubens-Leidenschaft stehen ihm gut zu Gesicht. Das Schlussbild mit ihm ist historisch nicht korrekt, doch dramaturgisch phänomenal ausgedacht. Die trotz Luthers Warnungen von Thomas Müntzer (Tobias Kleinhans) verführten und zu lärmenden Protest-Sprechchören aufgehetzten Bauern wollen zum Entscheidungskampf gegen ihre adeligen Unterdrücker antreten und werden von Frundsbergs Landsknechten schlagartig mit flammendem Kanonendonner nieder kartätscht. Martinus schreitet voller Schuldgefühle, die er klagend mitteilt, über die Leichen-Haufen und zieht desillusioniert als ein Geschlagener von dannen.
Lebhaft setzen sich auch Johann von Staupitz (Kurt Tüg), Luthers Vater (Hans-Peter Mauterer) und Luther-Hasser Johann Eck (Stefan Hunkler) in Szene. Luther-Beschützer Kurfürst Friedrich der Weise (Roman Gallion) und der raffinierte Papst-Verteidiger Kardinal Cajetan (Paul Maier) brillieren beim Schachspiel. Kaum eine der im Reformationsgeschehen handelnden Figuren wird vergessen. Ulrich von Hutten (Stefan Pikora) tritt als Reformations-Propagandist auf. Philipp Melanchthon (Lukas Tüg), in der damaligen Realität einer der wichtigsten Protagonisten, wird als Randfigur freilich unrichtig dargestellt. Und die „entlaufene“ Nonne, Luthers spätere Frau Katharina von Bora (Anna Hug), darf in einer anrührenden, recht einfältigen „Ehe-Anbahnungs-Szene“ glänzen.
Da ist unter dem leitmotivisch wiederholten Motto „Wir brauchen eine Reformation“ das farbenreiche und lebendige Gemälde einer Zeitenwende entstanden, das sich in der Vielfalt seiner Akteure wie ein Puzzle zusammensetzt. Der Applaus war beträchtlich.