Hinrichs ruft ins große Dunkel oder steigt auch mal ins Publikum, wenn er Mini-Episoden aus einer Kindheit erzählt, die er als seine ausgibt. Wie er sich mit sechs Jahren den Arm mit der Rasierklinge aufschneiden und sich umbringen wollte. Wie sein Vater ihn im Sommerurlaub in der Umkleidekabine am See verprügelt hat. Wie er mit seinen Kumpels im Passat durch die Gegend gefahren ist und Musik gehört hat. Aber das ist längst vorbei. „Wohin mit dem Verschwinden von Menschen?“ fragt er. Und: „Warum machen die alle Selfies?“ Antwort: „Weil sonst keiner da ist.“
Ja, alles „rührende Geschichten“, bricht er die Ernsthaftigkeit. Und doch geht es um die Suche nach Zugehörigkeit, nach Aufgehobensein. Und darum, wie man daran in der Welt des kalten Kapitalismus, in der jeder Schritt im Leben verwertbar sein muss, nur scheitern kann. Einer der schönsten Sätze: „Das ist doch das, was ich mit einigen verbinde: dass sie sich noch schaden können – ohne Verwertungslogik.“ Dann erzählt er von einem Morrissey-Konzert, bei dem 70 000 Menschen „There is a light that never goes out“ singen, ein Song, der davon handelt, kein Zuhause zu haben: „Und alle singen das mit. Warum? Zuhause, das kann doch nicht für alle Dunkelheit bedeuten.“ Oder doch? „Zuhause bedeutet für sie alle, dass es keines für sie gibt.“
Die 27 Tänzerinnen und Tänzer des Palast-Ensembles verleihen dem Abend seine Revue-Momente. In wenig glamourösen bunten Turnanzügen wie dem des Schauspielers performen sie perfekte kleine Choreographien, bei denen Hinrichs aus der Reihe fällt, nicht mithalten kann. Nicht nur, weil er sich bei den Proben den Fuß verknackst hat – aber diese Verletzung untermauert nun noch das Scheitern und die Einsamkeit. Pollesch und Hinrichs, Co-Regisseur des Abends, spielen mit den Mitteln dieses Ortes, unterlaufen und feiern sie: Mal wird Ravels Boléro eingespielt, bunte Laser flackern über die Bühne, einmal wird ohne Musik das Bein gehoben und die berühmte Friedrichstadt-Palast-Chorusline getanzt – Revue-Zitate, mit denen die beiden wie in einem Zauberkasten spielen.
Schon bei „Kill your Darlings“ 2012 an der Volksbühne hatte Hinrichs gezeigt, dass er Polleschs Arbeiten einen neuen Ton zu verleihen weiß. Den Pollesch-Sound aus intellektuellem Boulevard-Talk, Diskurs-Geschwurbel und jeder Menge Ironie hat er durch einen viel menschlicheren, privaten, zärtlichen ersetzt. Sein halbironisches Pathos geht stets einher mit einem verschmitzten, warmen Lächeln. Die letzten Worte gehören noch einmal dem Sänger Morrissey: „Es gibt ein Licht, das niemals ausgeht“, zitiert Hinrichs. Und dazu schmettert Céline Dion ihren Hit „All by myself“ aus der bombastischen Soundanlage.
Ein Abend, der über unser Zusammenleben nachdenkt und einem dabei heiter-wehmütig das Herz öffnet – und zwar mit den ältesten und schönsten Theatermitteln: Schauspiel, Stimme, Raum, Menschlichkeit.