Foto: "Die Perser" bei den Salzburger Festspielen. Katja Bürkle, Valery Tscheplanowa (Chor des persischen Ältestenrates), Patrycia Ziolkowska (Atossa, Königsmutter) © Salzburger Festspiele / Bernd Uhlig
Text:Anne Fritsch, am 19. August 2018
Es ist das älteste Stück Theater, das wir kennen. Und möglicherweise das aktuellste. Aischylos‘ Tragödie „Die Perser“ wurde 472 vor Christus uraufgeführt. Das Stück ist ein Bericht, eine Klage über das Elend des Krieges. Berichtet wird von einem Krieg ohne Not, einer Schlacht ohne Sinn. Der Perserkönig Xerxes hat sich mit seinem gewaltigen Heer nach Griechenland aufgemacht, um eine alte Rechnung zu begleichen, die Niederlage seines Vaters bei Marathon zu sühnen und die Griechen zu unterwerfen. Bei Salamis verliert er stattdessen eine legendäre Seeschlacht, kaum einer seiner Gefolgsleute überlebt, Ungezählte werden tot an Land gespült. Das alles berichtet bei Aischylos ein Bote den Daheimgebliebenen, bevor Xerxes selbst am Ende als Gebrochener zurückkehrt.
Nun hat Ulrich Rasche „Die Perser“ als letzte Schauspielpremiere der diesjährigen Salzburger Festspiele (eine Koproduktion mit dem Schauspiel Frankfurt) inszeniert. Wie immer hat der Monumentalregisseur sich seine Spielfläche selbst entworfen: Zwei gigantische Drehscheiben, die die Ausmaße der Bühne des Salzburger Landestheaters sprengen und weit in den Zuschauerraum hinein ragen. Wie ein überdimensioniertes Fahrgeschäft drehen und neigen sich diese, die Darsteller müssen wie auf einem Teufelsrad das Gleichgewicht halten.
Und auch wenn es die typisch Rascheschen marschierenden Männerchöre natürlich gibt: Im Zentrum stehen diesmal drei Frauen. Katja Bürkle und Valery Tscheplanowa sind der Chor des persischen Ältestenrates, der das Geschehen kommentiert und einordnet. Patrycia Ziolkowska spielt die Atossa, die Mutter des Xerxes. Ihnen ist die vordere Scheibe vorbehalten; die hintere, weiter entfernte steht für das Geschehen in Griechenland. Kurz: Die Männer zerstören in der Ferne, die Frauen daheim müssen damit leben. In jedem Moment. Die drei Schauspielerinnen sind über die gesamte Länge des Abends, vier Stunden lang, präsent, können ihrem Elend nicht entkommen.
Die Männer dagegen, um die sich alles dreht, tauchen dann und wann auf der hinteren Scheibe auf: Während sie am Anfang, als die Kunde von ihrer Niederlage noch nicht eingetroffen ist, martialisch marschieren, bleibt von ihnen am Ende nichts als ein Heer der Versehrten, eine Chor der Leidensmänner. Gebeugt, in gelbem Licht und Nebel, auf der schiefen Ebene angeseilt mit Seilen, die wie Fesseln wirken, schleppen sie sich dahin wie Kriegsgefangene.
Die sich permanent drehenden Scheiben lassen keinen Stillstand zu, Rasche hält seine Schauspieler ununterbrochen in Bewegung. In dieser schwarzen Welt ohne Farben, die der Regisseur entwirft, wird jedes Wort – nein: jede Silbe – gedehnt und betont, bis sie vereinzelt im Raum steht. Wie in Zeitlupe tastet sich Rasche durch das Drama, die permanente Percussion gibt einen beinahe hypnotischen Rhythmus vor. Die uniformen Kostüme, Schritte und Betonungen machen die Schauspieler zu Stereotypen, zu entindividualisierten Sinnbildern einer Nation im Kriegs- und Schockzustand. Allein Atossa, die Königsmutter, hat so etwas wie individuelle Regungen. Ziolkowska macht ihren doppelten Schmerz sichtbar: den der Mutter, deren Sohn im Krieg ist, und den der Mutter, deren Sohn für den Tod so vieler verantwortlich ist.
Ulrich Rasche ist in den letzten Jahren mit seinen kolossalen Klassiker-Inszenierungen wie „Die Räuber“ am Münchner Residenztheater zum Top Act der deutschsprachigen Regieszene geworden. Weil seine präzise Spracharbeit nicht selten zum Kern der Texte vordringt und aus dem vermeintlich Bekannten ganz neue Erkenntnisse schält. Auch dieses Mal schafft er beeindruckende Bilder, scheut sich nicht vor Pathos und lässt die Worte nachhallen: „Xerxes hat uns ins Nichts geführt.“ Oder: „Seid mein Echo, schreit, wie ich schrie.“ Allerdings überdehnt Rasche den Text bei diesem Stück ohne Spannungsbogen, ja eigentlich: ohne Handlung, teilweise ein wenig zu sehr. So gerät der Sprechgesang phasenweise zur bloßen Geräuschkulisse. Die Gesänge, die Nebelschwaden und dramatischen Lichtstimmungen laufen hie und da Gefahr, übers Ziel hinaus zu schießen und unfreiwillig komisch zu wirken.
Am Ende setzt ein großer Chor des Schmerzes ein, in dem nun alle – Männer wie Frauen – zusammenfinden: „Oh, Persien, trauert um sie“. Wie in Trance skandieren sie immer wieder die gleichen Verse, klagen ihr Leid. Aischylos‘ Impetus war es, seine Landsleute aus dem Leiden der anderen lernen zu lassen. Ist das gelungen? Auch diese Frage schwingt an diesem Abend mit, an dem sich alles in immer gleichen Kreisen dreht und die Menschen auf der Stelle treten wie sie es anscheinend seit 2500 Jahren tun. Auch heute treiben Tote im Meer vor Griechenland.