Foto: Der Meister selbst ist auch dabei: Szene aus Christof Loys "Falstaff" mit dem Chor und der Statisterie der Deutschen Oper Berlin sowie Noel Bouley, Joel Priet und Elena Tsallagova. © Hans Jörg Michel
Text:Wolfgang Behrens, am 18. November 2013
Oft reicht eine Verkleidung, und schon ist Komödie. Wobei es ein komödiantisches Grundprinzip ist, dass sowohl die Zuschauer als auch die verkleidete Bühnenfigur um die Verkleidung wissen und so einen Informationsvorsprung vor weiteren handelnden Charakteren haben, die von der Verkleidung gefoppt werden. Christoph Loy hat nun in seiner Neuinszenierung von Verdis „Falstaff“ an der Deutschen Oper Berlin – es ist bereits Loys zweiter „Falstaff“ nach einer Produktion 1994 in Maastricht – mit diesem Komödiengesetz gebrochen: Immer wieder entledigen sich hier die Figuren ihrer Perücken, Kostüme und Aufpolsterungen, ohne dass man wüsste, wann der „eigentliche“ Charakter zum Vorschein kommt – im sporadisch zitierten historisierenden Kostüm, in der karikierten Alltagsklamotte oder im Abendkleid. Der Informationsvorsprung ist perdu, und rätselhafterweise scheint er nicht einmal mehr bei den Figuren selbst zu verbleiben: Sie finden sich in Rollen, ohne sich ihrer selbst sicher zu sein. Es ist dies wohl der Witz von Loys Inszenierung: Die Verkleidung ist nicht nur eine Strategie, um andere zu täuschen, die Verkleidung täuscht sogar das eigene Ich. Tutto nel mondo è – maschera!
Das Verwirrspiel um die Identitäten nimmt schon mit dem Rahmensetting seinen Lauf: Inspiriert von Verdis später Gründung einer „Casa di Riposo per musicisti“, eines Altersheims für Musiker, präsentiert Loy das „Falstaff“-Personal als muntere Runde alter Leutchen. Erspielen sich diese lustigen Greise von Windsor, wenn sie ihre Altersattribute abstreifen und plötzlich als junge Menschen vor uns stehen, ihre frühere, nicht zuletzt libidinöse Vitalität? Oder spielen hier junge Leute Greise (was allein dadurch der Fall ist, dass die Berliner Aufführung im Schnitt recht jung besetzt ist)?
Das unsichere Prinzip Maske greift bei Loy auch auf den Habitus über: Wenn Ford in seiner Furcht, als gehörnter Gatte zu enden, den Nebenbuhler Falstaff als Signor Fontana aufsucht, erzählt die gockelhafte Verzerrung, mit der Ford den Fontana spielt, womöglich mehr über seine Eifersucht, als ihm lieb ist. Die typisierte Verzerrung des Habitus gehört gewissermaßen zu Ford, nicht zu Fontana; der Verkleidete ist durch seine Verkleidung mitnichten Herr der Situation, ja, nicht einmal Herr der angenommenen Rolle. Umgekehrt wirkt Fords Ehefrau Alice in dieser Aufführung niemals „authentischer“, als wenn sie in vermeintlicher Verstellung auf das Liebeswerben Falstaffs eingeht: Von einer wirklichen Liebesszene ist das Treffen Falstaffs mit Alice hier nicht zu unterscheiden.
Christoph Loy mag zwar ein komödiantisches Prinzip auf den Kopf gestellt haben, die Komödie selbst aber hat er nicht verraten. Sie kommt hier mit Mitteln Brechts und der Commedia dell’arte daher – ein halbhoher roter Samtvorhang umsäumt die Bühne Johannes Leiackers, auf die Requisiten wird mit dem Finger gezeigt: Wird eine Tür benötigt, trägt man sie herein, und natürlich passen Falstaff und Ford nicht gemeinsam hindurch. Im Masken- und Verstellungsspiel bleibt genügend Raum für Situations- und Typenkomik.
Was indes zu kurz kommt, ist die Charakterisierung der Hauptfigur: Was das Faszinosum des dicken Ritters Falstaff, dieses fulminanten epikureischen Außenseiters, ausmacht, erzählt sich an diesem Abend nicht. Das hängt vielleicht auch mit dem jungen Noel Bouley zusammen, der die Rolle vor einigen Wochen vom erkrankten Berliner Publikumsliebling Markus Brück übernommen hat: Bouley bringt sängerische Intelligenz und einigen Spielwitz mit, für einen Falstaff aber fehlt es ihm noch an Urgewalt. Stimmlich schlank und ausgewogen, doch ebenfalls etwas brav gestaltete Barbara Haveman ihre Alice, so dass Michael Nagy als wunderbar flexibel agierender Ford, Dana Beth Miller mit ihren schier markerschütternden „Reverenza“-Grüßen als Mrs. Quickly und Elena Tsallagova als zauberisch hell timbrierte Nannetta der Premiere die sängerischen Glanzlichter aufsetzten.
Komödie ist immer auch Präzision, an ihr allerdings mangelte es manchmal in der Abstimmung zwischen Bühne und Orchester. Letzteres spielte unter Donald Runnicles farbenfroh und mit Sinn für den klanglichen Effekt, vor einigen Wochen freilich konnte man die „Falstaff“-Partitur in Stuttgart mit Sylvain Cambreling doch deutlich zugespitzter erleben, in weitaus höherem Maße auf den witzigen Punkt gebracht. In Berlin muss man den Witz woanders suchen, aber – und das ist tröstlich – verloren gegangen ist er nicht.