"Die Vorübergehenden" bei den Münchner Opernfestspielen

Das Leben als Labyrinth

Nikolaus Brass: Die Vorübergehenden

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:13.07.2018 (UA)Regie:Ludger EngelsMusikalische Leitung:Marie Jacquot

Welch‘ Glück, wenn man sein Höckerchen gleich zu Beginn an der richtigen Stelle in der diesmal vollständig bespielten, lang gestreckten (ehemaligen) Reithalle an der Heßstraße platziert. Denn an diesem dritten Abend der Festspiel-Werkstatt der Bayerischen Staatsoper findet vieles simultan statt. Also ist ein guter Blick auf den zentralen „Motel Room“ mit nur angedeuteten Wänden wichtig, in dem „Der Liebende“ anfangs schläft und in den er immer wieder zurückkehrt. Aber gut ist auch die Nähe zu einzelnen Nebenschauplätzen wie einem Studentenzimmer im Retro-Look, das allmählich von der „Liebenden“ möbliert und zu ihrem Refugium wird, oder die Andeutung von Räumen, in denen der „Vater“ stirbt oder die „Mutter“ Gemüse schnippelt, auch wenn vier große Leinwände manchmal Einblicke in die jeweils nicht einsehbaren Schauplätze bieten. Das Wohnzimmer, in dem „Was bin ich?“ am 70er-Jahre-Fernseher läuft oder das Kinderzimmer, in dem „der Liebende“ als kleiner Junge autistisch eine Puppe rhythmisch auf den Boden schlägt, wahlweise auch mit ihm als seinem eigenen Sohn Eisenbahn spielt, sind am anderen Ende der Halle aufgebaut, aber eigentlich auch weniger wichtig (Bühne und Kostüme: Ric Schachtebeck).

Nikolaus Brass hat sich für die beiden Teile seines pausenlos 90 Minuten dauernden Musiktheaters vor allem der Gedichte des Schweden Tomas Tranströmer bedient und daraus das Psychogramm eines Mannes gebastelt, der sich mit seiner unbewältigten Vergangenheit konfrontiert sieht und mit Begegnungen, die ihn nicht loslassen. Am Ende ist ein Moment erreicht, an dem er sich seines „Schattens“ (in Gestalt eines mephistophelisch züngelnden und tänzelnden Countertenors) aber auch seines jungen Ichs entledigt hat, nun, angezogen, entspannt rauchend auf dem Bett des Motelzimmers liegt und der Dinge harrt, die da kommen werden. Oder auch nicht. Hellsichtig kryptisch beendet „Die Liebende“ den Epilog mit den Worten „Es ist sein Leben, es ist sein Labyrinth.“

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Dieses Labyrinth zu durchdringen, fällt dem Zuhörer und Zuschauer anfangs schwer. Es beginnt wie eine Geburt aus Atemhauch und wortlos lallendem „Ah“, bevor der kleine, immer wieder das Geschehen grundierende zwölfstimmige Chor in die Alpträume des „Liebenden“ dringt („Zwei Uhr nachts: starker Mondschein, wenig Sterne“) und dieser erwacht. Vielfach wird gleichzeitig gesungen, sind die Stimmen Teil des kleinen Orchesters aus je zwei Flöten, Oboen und Klarinetten, verschiedenen Saxophonen, Trompete, Horn, Posaune und Akkordeon. Zwei Schlagwerker kommen hinzu und ein solistische Streichquintett. Das kann manchmal apokalyptische Ausmaße annehmen oder auch ganz zart kammermusikalisch schraffiert sein. Einmal werden die beiden Oboen zum Schatten des Schattens, tritt eine Klarinette zur Liebenden hinzu, wird mit der Mutter um die Wette geflötet, treibt das Baritonsaxophon den Vater vor sich her oder stehen zwei Streicher sich an den beiden Schmalseiten der Halle gegenüber und duettieren über eine Distanz von 60 Metern miteinander. Weil man den Text nur häppchenweise als Untertitel lesen kann, verliert er freilich oftmals seinen poetischen Zusammenhang, den dann die Musik stiften muss – und auf eine ganz andere Art auch immer wieder herstellen kann.

Traumhaft schön ist der Übergang vom dramatischen Ende des ersten Teils mit dem Sprung eines ominösen „Flüchtlings“ durch eine Mauer zum zweiten Teil, der laut Libretto in einem Garten spielen soll; den gibt es hier nur in der Phantasie. Wenn aber nach einem Akkordeon-Solo das solistische Streichquintett und andere Instrumente hinzutreten, vereinen sich auch die Stimmen der Liebenden, beginnen beide zu tanzen, nachdem das Paar Einzelne aus dem Publikum aufgefordert hat mitzukommen und sich schließlich fast alle in der ganzen Halle bewegen und verweilen können, wo gerade gesungen und gespielt wird. 

Da bekommt die Aufführung nach einer Stunde eine wundersame Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, die sie sonst mühsam herstellen muss. Auch Regisseur Ludger Engels tut manchmal des Guten zu viel, fächert das Geschehen noch mehr auf, als es schon das Libretto vorsieht und zwingt den Zuhörer und Zuschauer, eigene Bezüge zwischen den Figuren herzustellen, die oftmals weit voneinander entfernt agieren, laut Partitur aber sich gegenüber stehen sollen. Aber vielleicht müsste man aufhören, Textzusammenhänge herstellen zu wollen und als Ausdruck psychologisch gezeichneter Figuren zu verstehen. Vielleicht sollte man sich einfach den im Raum wandernden Klängen hingeben, auch mal die Augen zumachen und dieser Symphonie aus Worten und Tönen einfach nur lauschen, bevor ein gewaltiges Crescendo einen wieder aus der Trance holt. Dadurch gliedert Brass seine Partitur, verbindet geschickt Gesprochenes mit Gesungenem und erzeugt einen Sog, der durchaus nachwirkt, zumal die achtzehn Mitglieder des Staatsorchesters unter Leitung von Marie Jacquot genauso präzise und subtil spielen wie das Vokalensemble singt oder die Solisten agieren, allen voran das Paar der Liebenden: der bis in die Kopfstimme hinein ebenso fein wie intensiv singende und spielende Bariton Nikolay Borchev und die phänomenal höhensicher und ebenfalls ungemein präzise gestaltende Sopranistin Sarah Maria Sun. Als Schatten des Liebenden läuft Counter Vasily Khoroshev zu Höchstform auf, denn er agiert zugleich vokal verführerisch und lustvoll destruktiv skandierend wie ein schmieriger Conférencier. Der zum Reisenden mutierende Flüchtling (Ilker Arcayürek) besitzt ebenfalls große Bühnenpräsenz und einen modulationsfähigen Tenor, der seinen großen Verzweiflungs-Monologen Nachdruck gibt. Hervorragend besetzt sind auch die kleineren Partien mit Joshua Owen Mills (Der Liebende als junger Mann), Wolfgang Newerla (Vater) und Ulrike Hetzel (Mutter).