Foto: Das Koblenzer Ballettensemble in Steffen Fuchs' Choreographie "Der Besuch der alten Dame" nach Dürrenmatt © Matthias Baus für das Theater Koblenz
Text:Bettina Weber, am 26. September 2014
Diese Claire hätte auch auf dem Weg zu einem britischen Pferderennen sein können – jedenfalls dem überdimensionierten Hut nach zu urteilen, der als demonstratives Machtsymbol hereingetragen wird, als sie in ihrem Heimatdorf Güllen eintrifft. Hierher kehrt Claire Zachanassian bekanntermaßen nach vielen Jahren zurück, um die – von langer Hand vorbereitete – medeahafte Rache vorzunehmen, die die Handlung in Friedrich Dürrenmatts Tragikömodie „Der Besuch der alten Dame“ bestimmt. Moralische Fehlbarkeiten und Verhängnisse infolge der Verführung durch das böse Kapital – ein über die Zeiten hinweg bewegendes Thema. Der Koblenzer Ballettdirektor Steffen Fuchs hat sich nun der Tragikomödie von der humoristischen Seite genähert, um dem Stoff eine eigene Form zu geben. Das Drama gehört zwar nicht zu den meistgespielten Handlungsballetten, ist aber auch längst kein weißer Fleck mehr auf der Tanz-Landkarte: Zuletzt zeigte zum Beispiel Anna Vita 2012 eine bildintensive Version der „alten Dame“ in Würzburg.
Das komische Potenzial nutzt Fuchs – der Textvorlage entsprechend – vor allem für die erste Hälfte des Abends: Der Vorstellung der skurrilen Dorfgesellschaft und der rachesuchenden Claire, dem vergeblichen Versuch, dem hohen Besuch mit einem Festakt Rechnung zu tragen, begegnet der Choreograph mit überzogenen, grotesken Standbildern und pantomimischen Gestiken, die die klassischen Balletfiguren immer wieder ergänzen oder bewusst brechen. Diese parodistischen und schablonenartigen Bilder demonstrieren eindrücklich die Pathologie der Gleichförmigkeit und Gruppendynamik in einem Dorf, dessen Bewohner sich hündchengleich von der finanzstarken Claire verführen lassen. Dazu umweht die einzelnen Szenen eine Musik, die diese Lächerlichkeit einerseits untermalt, andererseits behutsam den Weg in die Tragik ebnet: Henry Goreckis „Quasa una fantasia“, Paul Hindemiths Version der Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ und später seine „Trauermusik“ oder Frédérik Chopins Sonate Nr. 1. Nach und nach lässt Fuchs in den Bewegungen auch Verzweiflung und diffuse Gefühlslagen zu, vor allem bei Alfred Ill, den der Tänzer Rory Stead über den Abend hinweg einfühlsam mitentwickelt.
Ganz ohne Sprache freilich vermag die Choreographie nicht auszukommen, vielmehr ist der Einbau von Schauspiel elementares dramaturgisches Moment: Claire ist als einzige Figur mit einer Schauspielerin (Raphaela Crossey) besetzt. Das ist eine naheliegende Entsprechung, nimmt sie doch als reichste Frau der Welt eine besondere Machtstellung ein. Indem sie auch die einzig Sprechende an diesem Abend ist, wird dieser Sonderstatus unterstrichen, gleichzeitig können ausgewählte Textpassagen die getanzten Szenen miteinander verknüpfen. Raphaela Crossey spricht die wenigen Worte zielgenau, mit angespitzter Härte, und sie tanzt die manierierten, abgehackten Bewegungen der Prothesengestalt Claire scheinbar mit dem Bewusstsein, im Bühnentanz kein Profi zu sein. Trotzdem ist spürbar, dass dies nicht die erste Tanzproduktion ist, in der sie mitwirkt, und die Eleganz ihrer körperlichen Präsenz ist kaum gestört.
Steffen Fuchs nutzt die Choreographie, um dem, was im Drama nicht gesagt werden kann, körperlich Ausdruck zu verleihen. Es ist ein Tanz in der Lücke, wenn Claires und Alfreds Erinnerungen an die Vergangenheit verführerisch Gestalt annehmen: Während die beiden sich erinnern – halb Schauspiel, halb sitzender Pas de deux – tanzt ein junges Paar neben ihnen, die Rückblende wird greifbar gemacht. Dazu schafft die kammermusikalische Begleitung einen intimen Rahmen, stellt aber gleichzeitig auch einen spannenden Gegenpol zur Parabelhaftigkeit der Geschichte dar. Dem wird vor allem das Bühnenbild (Lucia Becker) gerecht: Es ist ein schlichtes Örtchen, mit einer langen Reihe gleichförmiger Türen – austauschbar, allgemeingültig. Darin tanzt das mimisch starke Koblenzer Ensemble in wunderschönen Fünfzigerjahre-Kostümen (Sasha Thomsen), die an die Entstehungszeit des Stücks erinnern, erst eher kärglich (die Stadt ist noch arm), später glamourös (die Stadt lebt im Voraus über ihren Verhältnissen). Die üppigen Kleider verhängen zwar unweigerlich die Körper der Tänzer, schränken aber offenbar die Bewegungsfreiheit kaum ein, und so entsteht eine weitere Erzählebene.
Dem künstlerischen Team gelingt es also, den formalen Anforderungen der Vorlage, der Komik, der Tragik, der Parabel und der Groteske, auf mehreren miteinander kunstvoll verwobenen Ebenen gerecht zu werden. Hier hat ein Drama sehr gekonnt seine Übersetzung in den Tanz gefunden. Das ist schön anzusehen – eine radikale Idee, die der Übertragung der literarischen Vorlage in den Tanz noch etwas Markerschütterndes entgegenzusetzen hätte, ist allerdings nicht in Sicht. Bei allem Charme der Inszenierung lässt sich der Eindruck von Konventionalität damit leider nicht ganz vermeiden.