Foto: Szene aus "manger" von Boris Charmatz © Ursula Kaufmann
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 23. September 2014
Die Gier hat derzeit offiziell schlechte Karten. Seit der Finanzkrise sind das Unersättliche, die Habsucht, die Gefräßigkeit schwer in Verruf geraten. Umso mehr, als Tugendethiken wieder hoch im Kurs stehen und jeder gerne eine gutes Leben führen möchte. Die christliche Pranke mit ihrem Ethos des Maßhaltens schwebt bedrohlich in der Luft. Und nun stellt der Choreograph Boris Charmatz 14 Tänzer auf die Bühne, die pausenlos essen. Keine Minute (von insgesamt sechzig), in der nicht geknabbert, gemampft, vertilgt, reingestopft wird. Von Genuss allerdings keine Spur. Denn was hier verzehrt wird, ist essbares Papier, also exakt das Material, aus dem auch Hostien hergestellt werden. Völlerei und Askese kämpfen in „manger“, der neuen Arbeit des französischen Choreographen von Beginn an miteinander.
Askese, das ist auch das Paradigma des Ballerinenkörpers, doch Charmatz‘ Tänzer tragen keine magersüchtigen Brandzeichen, von schlank bis mollig ist vieles vertreten. Sie kommen aus dem Publikum auf die Bühne, gruppieren sich zu einer locker zusammengesetzten Gemeinschaft. Das begrenzte Areal, das kaum ein Viertel der Bühne in der Bochumer Jahrhunderthalle ausmacht, werden sie den ganzen Abend nicht verlassen. Eine menschliche Horde formiert sich, alle in Schwarmdistanz zueinander, doch ohne sich im Akt des Essens aufeinander zu beziehen. Man kann hier durchaus die Einsamkeit der Nahrungsaufnahme in der Single-Gesellschaft assoziieren.
Den aufrechten Gang hat die Gruppe schnell hinter sich gelassen. Die Körper beginnen sich am Boden zu verformen, biegen, krümmen, verschrauben sich – quasi sichtbar gemachte Peristaltik. Einige lecken sich unter den Achseln oder die Hand, andere inspizieren mit den Mündern die eigene Haut, stecken sich die Zehen in den Mund. Momente der Regression, sei es in kindliche oder animalische Stadien. Gleichzeitig ertönt aus den vollgestopften Mündern Gesang: Josquin Desprez‘ „Qui habitat“, Fragmente aus Beethovens 7. Sinfonie, Corellis „La Folia“, aber auch Popsongs von The Kills oder Animal Collective. Essen und singen, Trieb und Kultur, künstlerische Verfeinerung und basales Bedürfnis verschränken sich. Zugleich überwölben die Klänge den Trieb mit einer ästhetischen Utopie. Doch damit stößt Charmatz‘ Choreographie dann an ihre Grenzen. Sie konzentriert sich in der Folge allzu deutlich auf die Triebstruktur und verdünnt die kulturhistorische Dimension des Essens mit all ihren zeitgenössischen Ausprägungen zu Spurenelementen. Die Tänzer bewegen sich auf allen Vieren, kratzen sich, liegen mit strampelnden Gliedmaßen auf dem Rücken. Unterkörper reiben sich am Boden oder stoßen in die Höhe, ohne dass daraus allerdings erotische Funken sprühen. Dazu erklingt als Sprechchor ein Text von Christophe Tarkos über einen Mann, der komplett aus Scheiße besteht: „Le bonhomme de merde“. Da der Text schwer verständlich bleibt, geht die schockierende Wirkung verloren. Und das eingesetzte Call-and-Response-Verfahren ruft zwar Assoziationen an liturgische und rituelle Zusammenhänge wach, ohne sie allerdings konkret zu machen. Charmatz spielt zwar mit Fragen von Essen und Ausscheidung, wenn die Tänzer Nahrung vom Boden aufnehmen, am Hintern des anderen schnüffeln oder sich von vorn und hinten in den Schritt fassen. Doch die Dimensionen von Genuss und Ekel, von Rein und Unrein, die vage Grenze zwischen Kultur und Natur werden nicht wirklich ausgeschritten. Wie schon bei „Levée“ ist auch „manger“ ein kleinteiliger Abend mit zahlreichen Wiederholungen und der für Charmatz typischen offenen Deutungsstruktur, die diesmal allerdings allzu begrenzt ausfällt. Oder vice versa: Die Kleinst-Anspielungen auf das Bedeutungsspektrum des Essens bleiben zu oft im Ungefähren stecken. Am Ende nimmt die Gruppe wieder den aufrechten Gang ein – der Apfel der Erkenntnis schmeckt diesmal allerdings genauso trocken wie die Hostie.