Foto: Markus Hottgenroth als François © Marc Lontzek
Text:Manfred Jahnke, am 4. Mai 2023
Am Theater Ulm hatte Michel Houellebecqs provokanter Zukunftsroman „Unterwerfung” Premiere – als Schauspielertheater mit sparsamen Bühnenmitteln rund um das Wort SICHER.
Durch den Vorhang tritt ein Mann barfuß in einem Sommerschlafanzug (weißes T-Shirt, gemusterte Shorts) auf. Er trägt zwei blaue Plastiktüten mit sich, die er zu Boden wirft. Ein Sprudelflasche fällt heraus. Der Vorhang öffnet sich. Man sieht auf das riesige schwarze Loch der Bühne des Theaters Ulm. Der Mann, winzig klein, verschwindet darin, wie ein Mensch in den hohen Kathedralen des Mittelalters. Ein Schriftband läuft im Hintergrund, das einen Text aus dem Roman „Unterwegs“ von Joris Karl Huysmans (1848 – 1907) zeigt, den Michel Houllebecq seinen Roman „Unterwerfung“ (2015) programmatisch vorangestellt hat. Der Mann holt aus den Plastiktüten Kleidungsstücke. Erst zieht er langsam ein grünes Hemd an. Während er über seinen Weltekel und seine Liebschaften, junge Studentinnen, erzählt, zieht er langsam eine Nadelstreifenhose an, schließlich eine Anzugsjacke und schwarze Lackschuhe: Nun steht der Literaturprofessor Francois vor uns, ein Mensch, der vergeblich wie die Menschen bei Huysmans nach Spiritualität sucht, nur die Leere in seinem Sein verspürt und sich in Liebesabenteuer zu stürzen versucht, die sich ebenso schal anfühlen.
Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
In den Handlungen von „Unterwerfung“ spiegeln sich nicht nur jene der Figuren von Huysmans, sondern auch die Existenzängste ihres Schöpfers. Francois, der sieben Jahre lang für seine Dissertation über diesen Autor forschte, besucht die Stationen, an denen der von den literarischen Strömungen des Naturalismus zu der der Dekadenz gewechselte Autor sich aufhielt. Aber mehr noch entwirft Houllebecq eine Geschichte über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Eine Geschichte über die Vereinzelung, in der sich alles um die Befindlichkeit des „Ichs“ kreist, aber jener spirituelle Bezug zur Welt, in der die Sinnhaftigkeit des Seins eingebunden ist, verloren gegangen ist und auch die Liebe, die Verwirklichung in der Sexualität nicht mehr hilft.
Der streitbare Houllebecq, der gerade in einem Pornofilm agierte, setzt dabei in „Unterwerfung“ (2015) auf ein Modell, dass die Handlung 2022 spielen lässt, mitten im Wahlkampf. Ein großer Wahlsieg der National Front, angeführt von Marie Le Pen, begleitet von den Radikalen aus der Identitären Bewegung, deutet sich einerseits an. Andererseits wollen die demokratischen Parteien mit der Bruderschaft der Muslime zusammengehen. Nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen setzt sich am Ende der charismatische Mohamed Ben Abbes durch und bemächtigt sich der Erziehungseinrichtungen, auch der Universitäten. Francois muss sich entscheiden, entweder in Pension zu gehen oder zu konvertieren. Er entscheidet sich zunächst für die Rente, aber dann kommen Angebote für eine Edition von Huysmans Schriften, für ein hohes Gehalt, für bis zu drei von Heiratsvermittlerinnen vorgeschlagenen Ehefrauen… Francois erzählt nun im Konjunktiv und lässt seine Entscheidung in der Schwebe.
Markus Hottgenroth als Francois ist ein Charmeurs
„Unterwerfung“ ist als Ich-Erzählung konzipiert. Ich-Erzählungen lassen sich zumeist geschickt in Monologe transformieren. Andreas Nathusius (Regie) und Christian Katzschmann (Dramaturgie) halten sich eng an die Handlungsabläufe ihrer Vorlage, auch die Struktur, in der die Tage des Bürgerkriegs vom 15. bis zum 30. Mai tagebuchmäßig notiert werden. Zwangsläufig müssen die Handlungen verknappt und fokussiert werden: diese Bearbeitung konzentriert auf die Beziehung zwischen dem Individuum und der Welt. Wobei das Spiel von Markus Hottgenroth als Francois die eines Charmeurs ist, der selbstironisch mit dem Publikum (in den ersten Reihen) kokettiert. Da ist einer, der rückblickend auf die Ereignisse schaut, die unmittelbar nicht mehr viel mit ihm zu tun haben. Weitausholende gestische Bewegungen unterstreichen das. Wenn er aus der Erinnerung von Begegnungen erzählt, dann ändert er leicht die Stimme und nimmt eine andere körperliche Gestik an. In nur wenigen Momenten verliert er sein Lächeln und auch seine Sex-Obsession wird nur in einer Szene angedeutet, einmal auch stülpt er sich in einer Verzweiflungsgeste vergeblich eine der Plastiktüten über den Kopf. Zwei Stühle reichen, um die enge Welt, in der Francois lebt, anzudeuten.
Die Regie von Nathusius, der auch die Szenerie entworfen hat, arbeitet mit sparsamen Mitteln, er spielt mit der Bühne selbst: wenn der Wohnraum angedeutet wird, fällt der Vorhang und Hottgenroth spielt auf der Vorderbühne, dann beherrscht in Großbuchstaben in Form von Neonröhren das Wort SICHER die Bühne. Am Ende bleiben nur die Buchstaben ICH. Eine Schräge oder hochgefahrene Podeste deuten andere Räume an, Töne einer laufenden Maschinerie und sanfte Musikeinspielungen unterstützen die Szenenwechsel. In der Szene, in der Francois bei der Schwarzen Madonna von Rocamadour zu sich selbst zu finden versucht, tritt im Hintergrund ein Kinderchor auf. Der letzte Teil nach der Pause, in der die Frage nach der Unterwerfung unter dem Glauben für Francois konkret wird, wird bestimmt durch das Aufblasen einer überdimensionierten „Luftmatraze“, die schließlich die Form zweier nach vorne spitz zusammen laufende Wände einnimmt und in ihrer Wattierung und ihrer Schwärze an die Kaaba erinnern. Zugleich enthält das Bild etwas Geisterhaftes, weil Hottgenroth von unten bestrahlt wird. Am Ende agiert er wieder barfuß in T-Shirt und Shorts – wie am Anfang, nur mit dem bedrohlichen Bild der Kaaba, das die Bühne beherrscht. Auch hier werden die Sätze im Konjunktiv gesprochen, scheint die Frage nach der Unterwerfung in der Schwebe zu sein, wenn da nicht die Erzählhaltung des Spielers und das bedrohlich-einschüchternde Bild wären.