Foto: Hiroshi Amako (l.) und Gabriele Rossmanith in der Uraufführung "Die Nacht der Seeigel" © Jörn Kipping
Text:Sören Ingwersen, am 3. Mai 2019
Kann es sein, dass die Evolutionsgeschichte umgeschrieben werden muss und der Mensch gar nicht vom Affen, sondern von einem Stachelhäuter abstammt? Dieses Gedankenspiel bildet die Grundlage für die Opernproduktion „Die Nacht der Seeigel“, mit der nicht Darwin widerlegt, sondern die Bindungs(un)fähigkeit des Menschen verhandelt werden soll.
Drei Figuren bewegen sich durch das Gemeinschaftswerk, das sieben Stipendiaten der Akademie Musiktheater heute der Deutsche Bank Stiftung für die Aufführung in der opera stabile der Hamburgischen Staatsoper entwickelt haben. Ein großes blaues Tuch, das sich wie der Ausläufer eines Gletschers durch den Raum zieht, bildet die Fläche, auf der Sopranistin Na’ama Shulman als werdende Mutter ihrem noch ungeborenen Kind ein Schlaflied singt, beherrscht von der Angst, dass die Geburt eine endgültige Trennung von ihrem eigen Fleisch und Blut bedeutet. Ein von Angst Getriebener ist auch der Mann (Hiroshi Amako), fliehend von der Frau, die er geschwängert hat, und den damit verbundenen Konsequenzen. Ebenfalls in seiner eigenen Welt gefangen ist der Wissenschaftler (Gabriele Rossmanith), der nach einem mystischen Erlebnis glaubt, dass der Mensch in seiner Urform ein Seeigel war und zu jener Spezies gehörte, die einerseits völlig autark lebt, andererseits in großen Ansammlungen zu einer Art Metaorganismus verschmilzt.
Scheinbar beziehungslos wandeln diese drei Figuren durch den Raum, finden nur gelegentlich in der Schichtung ihrer Gesangsstimmen zueinander, während die sechs Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters zusammen mit E-Gitarrist Christian Kiefer unter der Leitung von Ulrich Stöcker klingende Bruchstücke streuen, mit Schlagzeug, Kontrabass, Trompete und Posaune eine Brücke von der Neuen Musik bis zu Jazz und Musical schlagen, mit dezenten Effekten gespickt durch das elektronische Zuspiel. Zwölf kurze Abschnitte haben die Komponisten Huihui Cheng, Diana Syrse und Mischa Tangian im Wechsel geschrieben, in denen die drei Sänger mit oft weit ausgesungenen Linien eine rundum überzeugende Leistung abliefern. Das gilt für die beiden Mitglieder der Internationalen Opernstudios Na’ama Shulman und Hiroshi Amako ebenso wie für die Ensembleveteranin Gabriele Rossmanith, die immer wieder auch auf dem Experimentierfeld der Studiobühne opera stabile zu erleben ist.
Das einstündige Experiment an diesem Abend darf man als geglückt bezeichnen, wenngleich das Libretto von Luise Kautz, Martin Mutschler, Christina Pfrötschner und Evards Svilpe etwas verkopft daherkommt und in seiner Aussage vage bleibt. Wenn am Ende der Stoffteppich zu einem Ballon anschwillt, schließlich aufreißt und als Flutwelle eine riesige Ansammlung schwarzer Schaumstoffbälle freilegt, haben sich inmitten dieser Seeigel-Ansammlung auch die Figuren wiedererkannt – in einer zeitlich eigentlich unmöglichen Konstellation.
Zwei der Librettisten – Luise Kautz und Martin Mutschler – haben diese musiktheatralische Re-flektion über Liebe, Einsamkeit und Verschmelzung in Szene gesetzt, während Diana Syrse und Evarts Svilpe aus den Teams der Komponisten und Librettisten oben auf der Galerie die kurzweilige Parabel als Seeigel mit Gesang und Perkussion unterstützten. Wenn sich im Stück das Ich im Andern wiederfindet, hat das wohl auch etwas mit dem Entstehungsprozess dieser Gemeinschaftsproduktion zu tun.