Foto: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Claus Guths Inszenierung an der Oper Frankfurt. © Monika Rittershaus
Text:Detlef Brandenburg, am 5. November 2012
Dass man sich den tieferen Sinn von Claude Debussys _Drame lyrique_ „Pelléas et Mélisande“ nicht über die äußere Handlung erschließen kann, ist eine Binsenweisheit. Ein Mann trifft ein rätselhaftes junges Mädchen an einer Quelle, macht sie in seinem düsteren königlichen Vaterhaus zu seiner Frau, und als sich zwischen ihr und seinem Halbbruder eine Liebesbeziehung anbahnt, tötet er den Rivalen – das ist ein Stoff für eine Ballade. Das Seelendrama, das Maeterlincks Text und Debussys Musik daraus machen, entsteht erst durch die Geschichten hinter der Geschichte. Die aber spielen sich in den Köpfen der handelnden Personen ab und werden durch Maeterlincks symbolistische Bilder immer nur angedeutet. Selten aber hat eine Inszenierung dieses „Dahinter“ mit solcher minimalistischer Klarheit und zugleich mit solch differenzierter Vielschichtigkeit ausgearbeitet wie die von Claus Guth in der Ausstattung von Christian Schmidt an der Oper Frankfurt. Und selten auch haben die Sänger diese szenische Interpretation mit einer solchen psychischen Intensität des Spielens und auch des Singens beglaubigt wie das Frankfurter Ensemble unter der Leitung von Friedemann Layer.
Dabei verzichtet Christian Schmidts Bühne auf alle pittoresken Beigaben, die das Libretto anbietet: auf Wald, Brunnen oder Grotte. Einzig die Dunkelheit ist geblieben. In dieser Dunkelheit, auf der leeren, nur von finsteren Widergängern schattenhaft bevölkerten und von einem glitzernden Geriesel ins Traumhafte entrückten Bühne, trifft Golaud seine Mélisande. Doch in diese glitzernde Finsternis hinein hat Schmidt ein mehrstöckiges großbürgerliches Wohnhaus gebaut wie die Vitrine einer scheinbar geschützten Privatsphäre. Wenn diese Architektur sich dreht, offenbart sie immer neue Räume: herrschaftliche Zimmer mit würdigen Stilmöbeln vor düsteren Tapeten, aber auch ein helles Treppenhaus und oben Yniolds lichtes Kinderzimmer, daneben das eheliche Schlafzimmer, all das beizeiten durchflutet von einer geheimnisvollen Helligkeit, die durch die hohen Fenster hereindringt (Licht: Olaf Winter). Eine strenge Würde liegt über allem, verkörpert durch König Arkel, der durch die Räume geistert wie die Fleisch gewordene Familientradition: steif am Stock sich haltend, streng Golauds Sohn Yniold drangsalierend. Das gemeinsame Essen der Suppe wirkt wie ein ritualisiertes Exerzitium. Und als Yniold die strenge Übung stört, wird er des Raumes verwiesen.
Über dieser Szenerie liegt ein magischer Realismus, wie man ihn aus manchen Hitchcock-Filmen kennt. Das über der Tafel des Speisesalons suggestiv prangende Porträt von Golauds verstorbener erster Frau etwa erinnert an Manderley, das hochherrschaftliche Anwesen aus „Rebecca“. Aber dieser „Fernsehrealismus“ bildet lediglich die Folie für die Tiefenschichten, die Claus Guth ohne jeden symbolistischen Aufwand, allein durch seine unglaublich vielschichtige Personenführung aufreißt. Die Begegnung an der Quelle etwa zeigt Mélisande als Femme fragile im schwarzen Abendkleid, unsicher, taumelnd einen Fuß vor den anderen setzend: Kommt sie angetrunken von einer Party? Ist das Geld, das sie in der Tasche hat, der Lohn für Liebesdienste? Golaud aber nimmt das alles gar nicht wahr, beide Figuren starren frontal ins Auditorium. Mélisande scheint ihm lediglich Anlass, eigene Phantasiebilder auf sie zu projizieren. Aber auch alle anderen halten es nicht anders: Pelléas verbindet Mélisande die Augen, statt sie zum Brunnen im Park zu führen. Allein durch seine Worte veranlasst er sie, die Szenerie zu imaginieren. Nicht anders als Golaud treibt auch er das Mädchen geradezu in seine Phantasiewelten hinein. Und wenn Arkel von den besseren, helleren Zeiten phantasiert, die mit Mélisande nach Allemonde kommen werden, dann vergräbt er lüstern seinen Greisenkopf in ihrem Schoß.
So wird Mélisande zum Spielball männlicher Obsessionen, die offenbar – die schwarzen Gestalten, die das Haus umlagern, scheinen es anzudeuten – seit Generationen durch diese Familie geistern. Immer tiefer gerät sie durch die ihr angetanen Zumutungen in eine Krise, vor der sie Zuflucht bei den im Kinderzimmer versteckten Zigaretten sucht. So wird verständlich, dass sie bei ihrem letzten Treffen mit Pelléas die Konfrontation mit Golaud geradezu herbeiführt, damit der Gatte sie zumindest von einem der Peiniger befreit – wodurch sie sich den anderen aber nur um so rettungsloser ausliefert. Wenn sie stirbt, geht sie durch ein hell aufleuchtendes Fenster, begegnet draußen in der Düsternis Pelléas und grüßt ihn noch ein letztes Mal mit einer sehnsuchtsvollen Geste; doch am Ende werden sich wohl beide in den Reigen der schwarzen Widergänger einreihen, die die Familie umgeistern. Oder? – Gerade dieses „Oder?“ macht die außergewöhnliche Qualität dieser Inszenierung aus, die die Geschichten, von denen eben die Rede war, niemals realistisch auspinselt, sondern immer nur als eine Möglichkeit andeutet und die szenische Interpretation damit genau in jener Schwebe hält, die auch in Debussys spinnwebenfeiner, düster ahnungsvoller Musik ist.
Das ist _ein_ Grund, warum hier eine so fesselnde Einheit von Bild und Klang entsteht. Der andere liegt in der faszinierenden interpretatorischen Intensität, mit der hier gespielt und gesungen wird. Christiane Karg ist eine Mélisande mit silberklarer, sich leuchtend behauptender Stimme, die sie in geschmackvoller Dosierung rauchig abtönt, kehlig aufraut, um damit die psychischen Facetten ihrer Figur anzudeuten. Paul Gay singt den Golaud mit einer kraftvoll-schlanken Bedrohlichkeit, dass einem angst und bange werden kann vor diesem sinistren Ehemann. Christian Gerhaher macht die morbide Schwärmerei des Pelléas mit vollem, dunklem Timbre glaubhaft, das in der Höhe tenoral aufblüht. Alfred Reiter ist als Arkel kein balsamisch philosophierender Übervater, sondern ein Haustyrann mit harter, abgrundtief finsterer Stimme. Hillary Summers gibt mit herbem Alt eine Hausfrau von hilfloser Würde. Und selbst der zwölfjährige (!) David Jakob Schläger singt und spielt als Yniold ein drangsaliertes, seiner Kindheit beraubtes Söhnchen, dass es einem unter die Haut geht. Friedemann Layer dirigiert die Musik ganz aus der Intensität des Augenblicks: mit trennscharfem, nie diffus verschwimmendem Farbspektrum, manchmal etwas laut, dabei die Binnenspannungen dieses vielschichtigen Orchestersatzes intensiv ausmusizierend. Am Ende begeisterter Applaus für alle Beteiligten.