So entsteht eine Art von globalisiertem und beklemmendem Welttheater mit mehreren Schauplätzen und Situationen. Deren Zusammenhang stellt sich weniger durch den Text her, der zum größten Teil in den Untergrund gegangen ist und nur ab und zu mal an die Oberfläche blubbert. Im Gesamtkunstwerk spielen die konkreten Worte von Dirk Laucke, der ja in Halle einst mit seinem Ultra-Projekt am Thalia für Furore gesorgt hatte, nicht die erste Geige. Und da, wo er in den Vordergrund tritt, wie bei den Diskursszenen der Kriegsreporter (Nils Thorben Bartling, Sybille Kress, Frank Schilcher) vor Ort über die Schamlosigkeit von Bildern, bleibt er eher schwach. Zur exklusiven Minderheit der Werke, in denen Wort und Musik einander auf Augenhöhe begegnen, gehört Sacrifice jedenfalls nicht. Hier dominiert vor allem der Klangrausch, den Nemtsov entfesselt und der die Assoziationsräume öffnet in die brandaktuelle Geschichte.
In der geht es um nicht weniger als den Dschihad und die Faszination, die diese Flucht aus der Wirklichkeit und dem Leben offenbar auch auf junge Mädchen, z.B. aus Sangerhausen, ausübt. Und zwar nicht nur, weil sie die Möglichkeit bietet, zu provozieren und zu revoltieren, sondern weil sie einen Weg suggeriert, auf dem man tatsächlich aus der rational erklärbaren, komfortabel ausgestatteten Welt, in der das Leben so oder so allemal über die Faszination des Todes triumphiert, aussteigen kann; den man für den Eingang ins Paradies halten kann; und auf dem man zu Mördern werden kann. Jana und Henny ziehen tatsächlich los. Mit einem alten Ford. Sie begegnen dem Flüchtling Azuz, der in der Ferne des zweiten Ranges auftaucht, wo ihm die Worte für das Grauen, dem er gerade entflieht, fehlen, und der bei den beiden Mädels auf der Kühlerhaube landet. Diese gegenläufigen Bewegungen machen Marie Friederike Schöder und Tehila Goldstein auf der einen und Gerd Vogel auf der anderen Seite vor allem mit viel leuchtendem Vokaliseneifer über dem Klanggrundrauschen mit seinen immer wieder einschlagenden Salven eher emotional als im Wortsinn nachvollziehbar.
Auch die Ratlosigkeit der Elterngeneration, hier der Frau und des Mannes, wird vor allem emotional und durchs (klein)bürgerliche Ambiente vermittelt. Anke Bernd ist als streng dreinblickende, die Deutschlandfahne bügelnde, verzweifelt nach einer „Alternative“ suchende Mutter in Hochform. Vladislav Solodyagin empfängt mit Friedenstaube auf dem T-Shirt und mit offenen Armen die auftauchenden Flüchtlinge daheim. Florian Lutz hat klare Bilder bei der Hand. Wenn oben mit einer Fahnen-Auswahl wie bei Pegida in Dresden vor einem aufgehenden Sonnenzeichen entlangmarschiert wird, ist das beklemmend. So wie auch die eingespielten Videos (effektvoll: Konrad Kästner), die wohl Drohnen-Einsätze wiedergeben. Und doch tun weder die Autoren noch der Regisseur so, als wären sie schlauer als die Zuschauer im Saal. Und das gehört auf die Habenseite der Produktion.
Es ist keineswegs nur Koketterie oder ein bloßer (bei all dem Ernst hochwillkommener) selbstreferentieller Witz, wenn die Komponistin via Einblendung irgendwann ihre Ratlosigkeit zu Protokoll gibt. Was kann man tun? Was kann ich tun? So fragt sie. Und lässt ihre faszinierende, raumfüllende, keine Ausflucht zulassende, nirgends Harmonie, Schönheit oder gar wohlfeile Antworten vortäuschede Tonspur des Grundrauschens einer Welt voller Gewalt und voller Fragen immer weiterlaufen. Irgendwann hat man das Gefühl, dass sie nicht mehr so recht herausfindet aus ihrer Selbst- und Zeitbefragung. Zwei Stunden ohne Pause und ohne nennenswertes Atemholen in einem emotionalen Dauererregungszustand: das muss man erstmal durchhalten! Weniger wäre da viel mehr gewesen. Aber ein Wohlfühlabend zum Seele baumeln lassen will und soll es eh nicht sein. Ein Musiktheatererlebnis der Extraklasse ist es.