Raum jenseits des Lebens
Bühnenbildner Étienne Plus bleibt in der Janáček’schen Gegenwart der 1920er-Jahre und baut nebeneinander drei atmosphärisch dichte Räume auf, die – bis auf einen – die Handlungsorte zeigen: Eine Anwaltskanzlei, eine Theatergarderobe und schließlich nach dem Pausenumbau ein Hotelzimmer. In der Mitte der seitlich verschiebbaren Räume aber befindet sich eine Art Nicht-Raum: Eine gleißend weiß ausgeleuchtete Zelle, in der Nebel wabert, mit einem sechseckigen Loch in der Mitte, einem Hocker, einem Garderobenhaken und einem sechseckigen Lichtfeld. Dieser sterile Raum – halb Labor, halb Gummizelle – ist der Ort, in den die ewig jung bleibende E.M. sich immer wieder zurückzieht. Schon wenn sie ihn betritt, scheint Marlis Petersen als Emilia Marty zusammenzubrechen. Sie schleppt sich mühsam voran, entledigt sich langsam ihrer Kleider (oder Rollen?) mitsamt den jeweiligen Perücken und ist plötzlich eine alte, glatzköpfige Frau. In diesen Momenten schweigt die Musik meistens, stattdessen sind seltsam schnarrende Atemgeräusche zu hören. Dann rafft E.M. sich immer wieder auf, zieht ein neues Kleid und Perücke an und weiter geht’s im ewigen Leben.
Das ist jenseits dieses kalten Nicht-Raums voller Skurrilitäten: Manchmal kreuzt eine echte alte Frau langsam die Bühne, dann wieder taucht ein Mädchen auf, das in ihrem steifen Kleid an Diego Velázquez‘ Porträts der spanischen Infantin erinnert. Dann gibt es einen Bewegungschor, der zuerst im Advokatenbüro Gesten des Büroalltags vertanzt, sich dann zu grotesk verrenkten Tableaus verknäuelt, im Aufzug stapelt oder in normalen Verrichtungen einfriert. Gelegentlich zieht jemand aus dem Boden lange Schnüre heraus, die Nornen- oder Ariadnefäden sein könnten.
Leuchtender und feiner Klang
Das alles ist ungeheuer fein und sorgfältig gearbeitet, fantastisch beleuchtet von Sebastian Alphons und gipfelt in der minutiös dichten, suggestiven Personenregie, die erstaunliche Nuancen freilegt. Marlis Petersen überstrahlt alles, ist eine vom Leben gelangweilte, oft schlecht gelaunte, manchmal aber auch überaus komische, dann unendlich sehnsuchtsvolle Emilia Marty. Sie findet auch stimmlich für diese sonst gern mit Sopranistinnen im Spätherbst ihrer Karriere besetzte Rolle ganz neue Farben. Petersen singt lyrisch, jugendlich timbriert und mit sinnlichem Schmelz. Gibt manchen Passagen aber auch eine erschreckende Kälte, die nachvollziehen lässt, warum Emilia Marty sich am Ende doch nach dem Tod sehnt und einen neuen Trank verweigert. Wenn sie, nun wieder der Perücke entledigt, mit unsicheren Schritten nach rechts abtritt in ein unbestimmtes Licht und letzte, berückend leuchtende Töne singt, scheint sich doch eine neue Welt aufzutun – und Janáčeks Oper ein überraschendes Ende zu nehmen.
Das ist allerdings nur möglich, weil der bekennende Janáček-Verfechter Simon Rattle im Graben die Staatskapelle Berlin zu höchster Transparenz inspiriert und die ganze Komplexität der Partitur auffächert. Das klingt bisweilen fast impressionistisch, erstaunlich hell und stets im Dienst des Ensembles, das (fast) nie zugedeckt wird. Diese Sängerinnen und Sänger müssen sich im Übrigen nicht hinter Petersens Spitzenleistung nicht verstecken: herausragend darunter Bo Skovhus schmierig lüsterner Jaroslav Prus und Natalia Skryckas intensiv anrührende Krista. Eine rundum gelungene Produktion, die eine neue Sicht auf Janáčeks erlaubt und zu Recht stürmisch gefeiert wird.