Foto: Das erste Projekt des Europa Ensembles am Schauspiel Stuttgart © Björn Klein
Text:Manfred Jahnke, am 11. April 2019
Bei seinem Antritt als Intendant des Schauspiels Stuttgart kündigte Burkhard C. Kosminski zu Beginn dieser Spielzeit die Gründung eines internationalen Europa-Ensembles unter der Leitung von Oliver Frljic mit jeweils zwei Darstellern vom Nowy Teatr aus Warschau, vom Zagreb Youth Theatre und vom Staatstheater Stuttgart an. Und nun hatte das erste Projekt der Gruppe Premiere. In „Imaginary Europe“ verbinden sich Texte von Peter Weiss, Walter Benjamin oder Heiner Müller mit biographischen Geschichten der Schauspielerinnen und Schauspielern zu einer trashigen Revue von hoher Theatralität. Wobei Provokationen nicht fehlen dürfen: Über weite Strecken agieren die Akteure nackt. Das tun sie in einer solchen Selbstverständlichkeit, dass die Blöße kaum als solche wahrgenommen wird. Provokanter wirkt da schon, wie das Abbild des gekreuzigten Jesus ins Spiel gebracht und als Kommentator gegenwärtiger gesellschaftlicher Verwerfungen benutzt wird.
„Imaginary Europe“ führt die Stärken der Frljic’schen Ästhetik vor: grandiose Bilder, eine selbstreflexive Fähigkeit zur Selbstironie, manchmal im bilderbuchhaften Trash, wenn Adrian Pezdirc als Entertainer mit der Pappkrone auftritt, manchmal auch bloß als kabarettistische Einlage. Aber eines steht immer im Zentrum: das Spielen selbst. Es gelingt der Regie, Spielenergien des Ensembles nicht nur frei zu setzen, sondern auch zu bündeln. Claudia Korneev, Tina Orlandini, Tenzin Kolsch, Adrian Pezdirc, Jan Sobolewski und insbesondere Jasmina Polak überzeugen durch ihr Engagement. Ihre Fähigkeit, mit dem Plunder, der an den Seiten liegt, herumzuspielen, in Strapsen und abgerissenen Nylonstrümpfen aufzutreten (Kostüme: Sandra Dekanic) und dabei direkt mit dem Publikum zu kommunizieren; das wirkt so leicht wie gekonnt.
Frljic schickt sich und sein Ensemble auf die Suche nach Utopien für diesen Kontinent. Zunächst aber gilt es zu klären, was das denn ist, der „europäische Gedanke“? Frljic greift dabei auf eine Struktur zurück, die Peter Weiss in seiner „Ästhetik des Widerstands“ (1975 ff.) entwickelt hat: Nämlich anhand der Beschreibung von Gemälden, die gewichtige historische Ereignisse symbolisch festhalten, deren widerständiges Potential zu deuten. Die Inszenierung tut es in der Reihung: „Schwarzes Quadrat“ von Malewitsch (1915) als Ausdruck der Aufgabe von Gegenständlichkeit (was bei Weiss nicht vorkommt) und dann an den Gemälden „Das Floß der Medusa“ von Géricault (1816) und „Die Freiheit führt das Volk“ von Delacroix. Beide Gemälde liegen als Puzzle auf dem Boden, einzelne Puzzleteile werden von den Spielerinnen und Spielern demonstrativ gezeigt. Wobei das Ensemble kurz vor der Pause das Puzzle einsammelt und stapelt und sich dann in langen Gewändern auf diesen Podesten präsentiert: ein archaisches Bild von bezaubernder Schönheit.
Apropos Pause. Das Publikum wird gebeten auf die Bühne zu kommen und beim Aufbau des nächsten Puzzles, die Reproduktion des Bildes von Delacroix, mit zu helfen. Während auf der Bühne partizipativ herumgewuselt wird, sind, wo sonst die Übertitelungen laufen, News des Tages zu lesen. Wenn bei Weiss die Gemälde Stationen des janusköpfigen europäischen Bürgertums widerspiegeln, werden sie hier zu dystopisches Material gewendet. „Das Floß der Medusa“ zum Beispiel, steht hier nicht nur für die Flüchtlingsfrage im Mittelmeer, sondern wird noch verschärft durch einen Text von Savigny und Corréard „Der Schiffbruch der Fregatte Medusa“, in dem davon erzählt wird, wie der Kannibalismus durch die schwache Firnis europäischer Zivilisation wieder zum Ausbruch kommt. Um die realen und die symbolischen Bedeutungen der Bilder und ihrer Geschichten zu bündeln, wird der Engel der Geschichte, der „Angelus Novus“ von Walter Benjamin, herbeizitiert, der mit weit aufgerissenen Augen auf die Vergangenheit starrt und vom Sturm in die Zukunft getrieben wird. Er mutiert dabei zu jenem „glücklosen Engel“ von Heiner Müller, der in der „Versteinerung“ ausharren muss.
Diese geschichtsphilosophische Konstruktion wirkt schlüssig, wird aber im Spiel immer wieder unterlaufen. Besonders zum Schluss hin, wenn die persönlichen Geschichten der Darstellerinnen und Darsteller erzählt werden – und das noch in grotesken Lederhosen – zerfasert die Inszenierung. Das ist einerseits sympathisch, weil immer wieder eingestanden wird, dass die Versuche Utopien zu entwickeln an der Realität scheitern, andererseits aber auch ärgerlich, weil immer nur an der Oberfläche gekratzt wird. Man darf auf die nächsten Projekte gespannt sein. In „Imaginary Europe“ wird übrigens mit wenigen Ausnahmen Englisch gesprochen, aber Deutsch untertitelt. Die Texte von Peter Weiss sind im Original gelassen, ansonsten ist auch Russisch, Polnisch oder Kroatisch zu hören.