Foto: Eduard (Ulrich Matthes) und Charlotte (Anja Schneider) in "Westend" © Arno Declair
Text:Barbara Behrendt, am 21. Dezember 2018
Haydns „Schöpfung“ dröhnt über die weiße, leere Bühne von Katja Haß – ein Kubus mit kreisrunder Öffnung gen Himmel. In dieser noch unmöblierten Villa im gut situierten Berliner Stadtteil „Westend“ wollen Eduard und Charlotte neu anfangen. Eduard, gespielt von Ulrich Matthes, ist Schönheitschirurg, der die Ängste der Menschen vor dem Altwerden zu behandeln meint. Charlotte, besetzt mit Anja Schneider, bereitet nach einer Stimmband-OP ihr Sopran-Comeback in Haydns Oratorium vor. In ihrer beider Leben platzt Eduards alter Studienkollege Michael (Paul Grill), der als Arzt in Afghanistan gearbeitet hat und nun bei ihnen Unterschlupf sucht. Mit Michael steht die Welt vor der Tür, die Eduard und Charlotte aussperren: Krieg, Leid, Tod, Flüchtlinge, Armut. Aber auch Charlottes alte Liebe ist zurück, die beiden waren früher mal ein Paar – wovon Eduard nichts weiß. Dann gibt es noch die Nachbarin Lilly (Linn Reusse), Medizinstudentin, die zweite Frau in diesem Vierergespann, mit der wiederum Eduard anbandelt.
Einerseits entfacht Moritz Rinke ein Beziehungsgewirbel, das auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ gründet – sogar die Figurennamen sind identisch. Andererseits ist „Westend“ Metapher für das Ende des westlichen Wohlstandslebens, das im Angesicht von globalen Krisen nicht fortführbar ist. Neu ist das nicht, aber durchaus legitim, uns, dem westlichen Publikum, die eigenen Widersprüche vorzuhalten. Das Stück lebt von der psychologischen Einfühlung, der Identifikation – doch gerade die fällt schwer, wenn die Figuren beinahe unter dem Gewicht der Welt, die sie symbolisieren, zusammenbrechen.
Da ist etwa Eduard, der den Narzissmus zur westlichen Staatsform erklärt, der er selbst am konsequentesten folgt. Der es romantisch verklärt, Charlotte auf seiner eigenen, ersten Hochzeit kennengelernt und sofort geküsst zu haben. Hoch symbolisch dann auch die beiden Zinksärge, die im Haus und tatsächlich auch auf der Bühne stehen. Eduard sollte sie damals für zwei Kinderleichen zu Michael nach Afghanistan schicken, das ging schief – jetzt stehen sie hier als sichtbares Zeichen der Schuld.
All das ist viel zu dick aufgetragen. Trotzdem: Ulrich Matthes und Anja Schneider sind zwei sehr gute Argumente für diesen Abend. Regisseur Stephan Kimmig hält sich zurück und lässt seine Schauspieler ihre Figuren erkunden, wie das bei einer Uraufführung eigentlich immer der Fall sein sollte. Wie Matthes herumtänzelt, seine bedeutungsschwangeren Sätze ganz nebenbei spricht, manchmal ironisch, immer verletzlich, wissend, trauernd – das lässt aus dieser Symbolfigur dann doch einen Menschen aus Fleisch und Blut werden. Und Anja Schneider legt so viel Lebenshunger, so viel Trotz und Verzweiflung in ihren Blick, dass man sie wortlos versteht.
Anders bei Linn Reusse als Lilly und Paul Grill als Michael, ihre Worte klingen oft pathetisch, affektiert, aufgesetzt. Zu viel politische Botschaft, zu viel Weltanschauung will Rinke in seine Figuren pressen – und zusätzlich die „Wahlverwandtschaften“ neu erzählen. Das wirkt oft konstruiert, auf drei Stunden Länge (bei aller Pointen) auch mal zäh und erzeugt zu wenige wirklich berührende Momente auf der Bühne.