Foto: Clara De Pin, Andreas Döhler, Sina Martens und Marc Hosemann in Castorfs „Fabian“ am BE © Matthias Horn
Text:Sophie Vondung, am 13. Juni 2021
Vier Stunden Exzess zeigt diese „Fabian“-Neuinszenierung von Frank Castorf, der nach mehreren Corona-Verschiebungen gestern Erich Kästners Roman am Berliner Ensemble zur Premiere bringen konnte. Aus der Perspektive des arbeitslosen Germanisten Jakob Fabian taumeln die Goldenen 20er darin ihrem Ende entgegen, die herannahende Weltwirtschaftskrise fordert Arbeitsstellen, und Straßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten sind an der Tagesordnung.
„Dieses Buch nun hat keine Handlung“, warnt Schauspielerin Sina Martens schon zu Beginn des Abends vor. In diesem Sinne greift das Stück in einem kaleidoskopartigen Rundumschlag Handlungsstränge des Romans auf, etwa den Selbstmord von Fabians bestem Freund Labude, der in der anachronistischen Erzählweise immer wieder zurückkehrt, um die eigenen Todesumstände aufzuklären. Die Liebesleiden der beiden Männer stehen im Zentrum des Stücks. Eine Videocollage zeigt den überflutenden Wahnsinn der Metropole. Frank Büttner vollzieht, das Publikum voller Verzweiflung anbrüllend, das Schicksal des Metallarbeiters Peter Sturz nach, der, von der Oberschicht ausgegrenzt, in den Tod getrieben wird. Bis auf wenige Referenzen ins Jetzt belässt die Inszenierung den Stoff in seiner Originalzeit.
„Fabian“ läuft bei der Sommerberlinale seit kurzem auch im Kino. Stellt sich die Frage, warum der Stoff gerade jetzt wieder vermehrt aufgegriffen wird. Nach Parallelen zum Heute muss man darin nicht lange suchen. Der Populismus gewinnt an Macht, und um die Feierwut nach der Krise nachvollziehen zu können, muss man nur in einer Samstagnacht durch die Straßen gehen und das Treiben in den wiedereröffneten Bars beobachten. Pazifismus und politische Fragen, große Themen bei Kästner, treten in Castorfs Inszenierung jedoch in den Hintergrund, um überbordendem Hedonismus Platz zu machen. Schon die ersten Minuten des Stücks setzen den Ton. „Die Massenarbeitslosigkeit hat Millionen in den Untergang getrieben? Ich hab’s! Wir gehen ein bisschen ins Bordell.“ So taumeln Fabian (Marc Hosemann) und Labude (Andreas Döhler) zu ohrenbetäubend wummernder Musik durchs Nachtleben. Die überpräsente Sexualität thront dabei in Form einer riesenhaften nackten Tänzerin über den beiden, die mechanisch die Hüften schwingt.
„Die Geschichte eines Moralisten“ war der Kompromiss-Titel, unter dem der Roman 1931 in einer zensierten Version erschien. Kästner bezeichnete auch sich selbst als Moralisten. Wieviel eigene Agenda steckt also im Roman? Er wollte warnen, die Leser mobilisieren, zitiert Sina Martens eine Art Apologieschrift Kästners von 1950. Diesen literarischen Aktivismus stellt sie jedoch sogleich in Frage. Ist Kästner, angesichts der detailreichen Beschreibungen von Frauenkörpern und sexuellen Perversionen, nicht eher Schwein als Moralist? Auf dieses Stichwort treten erotische Tänzerinnen auf, die als schmückendes Beiwerk die männlichen Hauptcharaktere umschwärmen. Die wiederum lamentieren ihre enttäuschte Liebe zu den Damen.
Der Exzess wird auch für das Publikum nach über drei Stunden zur Belastungsprobe. So überflutet wird es mit den drastischen Darstellungen auf der Bühne: Nacktheit, Gebrülle, Kunstblut, Sex in der Badewanne, Sex zwischen Schweinehälften, Sexorgien im Bett. Madita (Madita Mannhardt) vergnügt sich mit zwei Männern gleichzeitig, während ihr Partner (Jonathan Kempf) bedröppelt daneben steht und Liebesbriefe an sie rezitiert. Das Ensemble bespielt dabei ein aufwendiges Bühnenbild (von Aleksandar Denić), das den gesamten Bühnenraum einnimmt, und eine ganze Wohnung mit Schlafzimmer, Badezimmer und Küche beinhaltet, sowie im Außenbereich eine Bar, eine Dachterrasse, eine Gasse unter Stahlträgern. Schade nur, dass diese Kulissen durch die Castorf-typische Multimedialität nicht gebührend zur Geltung kommen. Denn das Ensemble wird ständig von einem Kamerateam begleitet. Immer wieder fährt dann eine große Leinwand herunter und blockt über lange Strecken nahezu den gesamten Blick auf das Bühnengeschehen. Im Hintergrund lassen sich wuselnde Füße des Bühnenteams erspähen, oder man hört die Darstellerinnen und Darsteller gedämpft den Text sprechen, den die Tonangel für die Leinwand-Übertragung einfängt.
Der Online-Überdruss ist im Publikum klar zu spüren, und so wäre gerade jetzt eine simplere, direktere Form klar vorzuziehen gewesen. Die vier Stunden „Fabian“ überwältigen die Sinne, dröhnen das Publikum zu, bis es gar nichts mehr aufnehmen kann. Politische Diskurse werden von Gebrüll und Lärm verschluckt. Eine Reduktion hätte dieser Inszenierung also in jeder Hinsicht gutgetan.