Foto: Benjamin Russell in "Oryx and Crake" am Staatstheater Wiesbaden © Karl und Monika Forster
Text:Michael Kaminski, am 19. Februar 2023
Bis auf wenige Vertreter der Spezies wird die Menschheit von einer Seuche dahingerafft. Übrig bleiben genmanipulierte Wesen auf humanoider Schwundstufe. Doch, was eine Auseinandersetzung mit der jüngsten Pandemie scheint, beruht auf Margaret Atwoods bereits 2003 veröffentlichtem Roman „Oryx and Crake“, dessen Titel für diese Oper übernommen wurde. Die Uraufführung war zur Eröffnung der Maifestspiele 2022 am Wiesbadener Staatstheater vorgesehen und in Anbetracht einer Vorlaufzeit von drei Jahren stand die Konzeption des Werks also ebenfalls fest, bevor Covid-19 zu wüten begann. Dennoch beweist der Komponist Søren Nils Eichberg erneut ein Gespür für Stoffe, die mitten in die Zeit greifen.
Die Novität wagt sich jedoch nicht zu Prägnanz und Dringlichkeit vor. Hannah Dübgens Libretto destilliert die wesentlichen Konstellationen und Schlüsselsituationen des Romans heraus: so die Freundschaft des hochbegabten Genforschers Crake mit dem menschlich integren, aber eher mittelmäßig begabten Jimmy samt beider Liebe zu der aus einer Märchenwelt in eine einzig am Profit orientierte Gesellschaft verschlagenen Sexarbeiterin Oryx. Überdies die These des Genforschers, der inflationäre Ressourcenverbrauch der Menschheit werde zur Auslöschung von Fauna und Flora führen. Und schließlich auch seinen Entschluss, sich und seine Artgenossen von der Erde zu tilgen, indem er eine die Libido steigernde Pille mit einem tödlichen Virus kontaminiert – nicht ohne die vorherige Züchtung eines ebenso friedlichen wie veganen und phantasielosen, genmanipulierten Menschensurrogats, eben der Craker, zu dessen Lehrer er den sozial kompetenten Jimmy als mit einem Antiserum geimpften einzigen Überlebenden der Menschheit auserkoren hat. Im Zeichen seiner neuen Aufgabe nennt Jimmy sich fortan Snowman.
Für 100 Minuten Spieldauer ist das eine ganze Menge Handlung. Offenbar zu viel. Denn weder Hannah Dübgens Libretto noch Eichbergs Partitur emanzipieren sich von der Romanvorlage. Letztlich geht eine Nacherzählung über die Wiesbadener Bühne. Dies in Gestalt eines Riesenmonologs des Rückschau haltenden Snowman, der ferner in den von ihm imaginierten Szenen als Kind und junger Mann begegnet. Crake, Oryx und erst recht alle weiteren Figuren bleiben bloße Schemen. Aus Eichbergs Partitur tönt oft geradezu meditativer Wohlklang. Maßvoll mischt sich Elektronik hinein. Sämtliche Vokalpartien sind ausgesprochen sanglich. Das melodische Lineament für Snowman bewegt sich durch introvertiert lyrische Bezirke.
Mitgefühl und Schönheit
Regisseurin Daniela Kerck überzeugt vor allem, wenn Snowman einerseits seiner vom Freund zugewiesenen Aufgabe als Vorbild und Mentor der Craker zu genügen sucht, um andererseits mit dem aufoktroyierten Amt zu hadern. In ihrer Einfalt und dennoch unbewussten Suche nach Sinn weckt Choreografin Rosana Ribeiro Mitgefühl für die Humanoiden. Als ihre eigene Bühnenbildnerin lässt Kerck Snowman auf dem gewaltigen Ast eines abgestorbenen Baumes vor dem Hintergrund einer ausgestorbenen Megacity hausen. Astrid Steiner hat Videos ersonnen, in denen sich Schönheit und Gefährdung tierischer und pflanzlicher Arten zeigen.
Albert Horne motiviert den Chor des Hauses, sich transparent und in dynamisch feinster Abstufung ins Klanggeschehen einzubringen. Als Uraufführungsdirigent lässt Albert Horne mit dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden seine nahezu kontemplative, letzte Nuancen auslotende atmosphärisch dichte Deutung der Partitur aus dem Graben steigen. Benjamin Russel meistert die beinahe endlose Partie des Snowman, indem der verinnerlichten und lyrischen Grundstimmung auch vokal weiten Raum gibt. Crake präsentiert sich bei Christopher Bolduc als von keinem Zweifel angefochtener, kühler Überzeugungstäter. Anastasiya Taratorkina als Oryx irrt gleich einer Undine durch die Dystopie. Auch alle weiteren Rollen sind höchst angemessen besetzt.