Die Oper des US-Amerikaners André Previn, 1997 entstanden und im folgenden Jahr in San Francisco uraufgeführt, verhindert solche Vereinfachungen durch den Zwang ihrer musikalischen Strukturen, indem sie den Gefühlsraum der Figuren ernst nimmt. In Stralsund brachte das Theater Vorpommern das Werk, das seit 2008 an mehreren deutschen Theatern in englischer Sprache lief, erstmals in deutscher Sprache heraus. Ein enormer Gewinn, wird doch so die Kommunikation über psychologische Tiefen wie auch über höchst banal Oberflächliches und auch die unausgesprochenen „zwischen den Zeilen“ mitschwingenden Beziehungen zwischen den Figuren leichter nachvollziehbar. Der Coup dieser Erstaufführung gelang dem Theater Vorpommern übrigens, indem es ohne rechtliche Zusagen, quasi auf Risiko, die Übersetzung des Librettos von Philip Littell in Auftrag gab; die deutsche Fassung von Bettina Bartz und Werner Hintze fand das Wohlwollen des amerikanischen Verlages und brachte die Erstaufführungsrechte.
Mit der Stralsunder Aufführung unter musikalischer Leitung von GMD Florian Csizmadia und in der Regie von Horst Kupich – formbewusst, ergreifend und mit feinen Nuancen – präsentieren sich Opernensemble und Orchester auf beeindruckendem Niveau. Prévins Musik erweist sich als nicht unbedingt innovativ, aber dennoch für Musiker (vor allem die Bläser) und alle Sänger anspruchsvoll herausfordernd. Previn schöpft aus dem Klangkosmos spät- bzw. neoromantischer Klassiker der Moderne, mit Anklängen an Gershwin oder Satie, zuweilen flimmern auch direkt Jazziges oder filmmusikalische Klischees aus dem Orchestergraben. Aus alldem hat der Komponist ein interessantes, spannungsreiches Material mit Sogwirkung geschaffen, das in routinierter Kombination die Innenwelten der Figuren auslotet, ihre Gefühle illustriert, auch zuweilen leicht distanzierend kommentiert, Spannung und nervöse Angespanntheit vermittelt – sowie Verzweiflung.
Gunta Cese gibt die Hauptrolle mit einem energievollen, warmen Sopran und spielerischer Kraft. Zu Beginn betritt sie die Szenerie (Ausstattung Christopher Melching) auf einem hoch gelegenen Steg: eleganter Auftritt, Dame von Welt mit zwei roten Koffern. Der Abstieg in die bescheidene Wohnung ihrer Schwester Stella und ihres Mannes Stanley (Franziska Ringe und Thomas Rettensteiner) über eine steile Treppe ist in gewisser Weise ein sozialer Abstieg in einfache Verhältnisse, die sie zunächst mit Geringschätzung sieht. Zugleich erweist er sich nach der Enthüllung ihrer Lügen auch als Abstieg zu ihrer letzten verbliebenen Lebensmöglichkeit.
Doch nicht nur auf Blanches Lügen konzentriert sich die Inszenierung: Enthüllt wird ebenso ein tief tragisches Lebensschicksal sowie ein allmählich sterbender Anspruch auf Lebendigkeit. Wie Sehnsucht sich in Verlangen und Begierde verwandelt (das Wort „Desire“ im amerikanischen Originaltitel kann ebenso Sehnsucht wie Begierde bedeuten) und sich immer mehr nur in die Wunschwelt von Fantasie und Magie verlagert, ist hier eindrucksvoll erzählt.
Ebenso, wie sehr das Elend der Blanche nicht nur ihr eigenes ist, sondern aus dem Elend einer strikt männlich dominierten Umgebung voll unterschwelliger Gewalt kommt. Wenn Therapie nötig ist, dann für alle Beteiligten: für den primitiv-rohen Burschen Stanley, Blanches Schwager, der aus niederen Instinkten ihre letzten Chancen eines möglichen „normalen“ Lebens hintertreibt und wie ein Besessener seine Position und sein Eigentum an der eigenen Frau verteidigt. Oder für Blanches Schwester Stella, die diesem rohen Burschen lange Zeit völlig verfallen scheint. Oder für Harold Mitchell, den der Tenor Karo Khatchatryan als betagtes, aber naives Muttersöhnchen mit völliger Hörigkeit gegenüber Autoritäten anlegt.
Gerade die Komplexität der nicht einfachen Wahrheiten kann diesen Abend zum nachhaltigen Ereignis machen. Und der Umstand, dass die Aufführung Anlass zu Disukssionen über Figuren und modernes Leben gibt, ist in der Oper ein nicht eben häufiger Effekt.