Foto: Der Traum ist zerstoben, aber der Holzbaum grünt: Die Schlussszene von Tobias Kratzers "Lohengrin"-Inszenierung mit Heiko Börner in der Titelpartie und Bjoern Waag als Telramund (rechts). © Matthias Horn
Text:Detlef Brandenburg, am 8. September 2013
Sie warten; sitzen, kauern, lungern herum, wirken gelangweilt, lethargisch. „Wir warten auf das große Wunder“ verkündet ein neonblau leuchtender Schriftzug an der Rückwand des kahlen Holzkastens, den der Ausstatter Rainer Sellmaier für Tobias Kratzers „Lohengrin“-Inszenierung am Deutschen Nationaltheater Weimar gebaut hat. In der Tat: Sie werden am Ende ihr blaues Wunder erleben, wie sie es sich so wohl kaum haben träumen lassen. Doch nun, während der Ouvertüre, ist die Wundersehnsucht noch ungetrübt, und der Tatendrang erwacht. Erst einer, dann zwei, drei erheben sich, weil sie ahnen, dass man auf Wunder, um die an sich nicht selbst kümmert, ewig warten wird. Und wirklich: In den Kisten am Rand der Wände finden sich alte Kostümteile und Requisiten, die denen der Uraufführung ähneln (was hier, am Ort der Uraufführung, eine hübsche Pointe ist); es findet sich darin auch ein Foliant, womöglich eine alte Partitur des „Lohengrin“; und es findet sich auch einer, der die Sache dann mal in die Hand nimmt und einzelne Mitglieder der wartenden Gesellschaft zu den im Folianten verzeichneten Rollen aufruft: der Heerrufer – er ist hier der Castingdirektor und bald auch der Regisseur.
So etwas hat man natürlich schon häufiger gesehen, auch bei Wagner. Und hat immer wieder erlebt, dass so eine „Theater-auf-dem-Theater“-Regie zwar anfangs einen interessanten Verfremdungsrahmen erzeugt, sich aber irgendwann totläuft, weil die doppelte Optik dem Stück die unmittelbare Dringlichkeit nimmt und sich in unauflösbaren Inkonsequenzen verheddert. Letzteres widerfährt auch Tobias Kratzer. Der Schaden hält sich hier aber in Grenzen, weil Kratzer mit seinem doppelten Rahmen erkennbar ironisch spielt. Es geht ihm offenbar gar nicht darum, ein Konzept auf Biegen und Brechen durchzuziehen, sondern vielmehr um den Assoziationsreichtum, der dadurch entsteht, dass jede Geste, jede Aktion, jede Textstelle immer zwei Bedeutungsdimensionen hat: die direkte der „Lohengrin“-Handlung; und die indirekte jenes Kollektivs, das diese Handlung aufführt. Mit dieser Doppeldeutigkeit geht Kratzer bestechend intelligent und oft ausgesprochen witzig um.
Das fängt schon mit der Grundsituation an: Dass hier eine Gesellschaft das Wunder , das sie aus ihrer Lethargie und Depraviertheit erlöst, durch ein Theaterereignis selber stiftet, entspricht exakt Wagners Kunstphilosophie, die im „Lohengrin“ und in den „Meistersingern“ besonders klar Gestalt annimmt. Der Schwanenritter, der sich jeder ständischen Legitimation verweigert („Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art!“), ist quasi das Kunstwerk auf zwei Beinen, die Bühnenfigur gewordene ästhetische Utopie. Folglich ist die Zerstörung des ästhetischen Scheins zugleich die Zerstörung der verheißenen Erlösung, und das macht Kratzer so konkret wie konsequent deutlich. Als erste sabotieren Telramund (schon beim Gotteskampf) und Ortrud dieses Kunstwerk, indem sie geradezu mit triumphierendem Hohn aus ihren Rollen aussteigen. Dann ist es Elsas fatale Frage, die Lohengrins ästhetische Aura bedroht.
Als sie diese Frage wirklich stellt, ist der Ritter entzaubert, und Kratzer kann den Anschlag der Mordbuben im ehelichen Schlafzimmer glatt weginszenieren. Denn erstens hat Telramund seine Rolle ja längst abgeworfen und veräppelt nun (und bis zum Schluss!) als „reale“ Figur das Verklärungstheater der Übrigen nach Strich und Faden. Und zweitens hat Elsa auch Lohengrin seiner „Rolle“ beraubt; wer also sollte da wohl wen noch erschlagen? Das alles aber ist nicht nur hochintelligent. Es ist als Theatererlebnis auch ausgesprochen spannend und amüsant, weil Kratzer ein brillanter Personenregisseur ist, der die beiden Ebenen eloquent bedient und sich keine Gelegenheit entgehen lässt, etwa die Eifersüchteleien der wahren und verhinderten Heldendarsteller, die Divergenzen zwischen deren realem und fiktivem Status oder die allzu kitschigen Verzückungsbemühungen des Chores quietschkomisch zu kommentieren.
Nur ganz am Schluss verheddert sich der Regisseur mit seinem Do-it-youself-Wunder heillos. Nach der von Kratzer gesetzten Logik müsste Lohengrin mit dem Verlust seines ästhetischen Zaubers ja wieder zum wenig bezaubernden Alltagsmenschen werden. Dass hinter diesem Alltagsmenschen dann aber quasi als Inkognito dritter Ordnung die ästhetische Supermacht des Gralsrittertums stecken soll, kann oder will Kratzer nicht beglaubigen. Damit aber verfehlt der den Fluchtpunkt der gesamten „Lohengrin“-Handlung. Da lässt er zwar bei der Gralserzählung die riesige Holzsilhouette eines Baumes herniederfahren, deren grün schimmerndes Projektions-Blätterdach offenbar als Anspielung auf die Facettenstruktur im Zuschauerraum des Nationaltheaters gedacht ist. Lohengrin also als verhinderter Weimarer Theaterdirektor? Das trägt, wenn es denn so gemeint sein sollte, weder als ironische Anspielung noch als Schluss des „Lohengrin“.
In der wirklichen Welt hat gerade Hasko Weber die Theaterdirektion in Weimar übernommen (mehr zu seiner Eröffnung mit „Faust“ hier), Hans-Georg Wegner als sein Operndirektor hatte den Mut, Tobias Kratzer die erste Musiktheater-Produktion anzuvertrauen. Er kann trotz aller Einwände stolz sein auf seinen jungen Regisseur, der ihm einen spannenden, gedankenreichen und unterhaltsamen Abend beschert hat, den das Publikum überwiegend mit Beifall bedachte. Ansonsten orientierte sich der Applaus offenbar an der Phonstärke der Sänger, was ein zwar evidentes, aber darum noch kein künstlerisches Kriterium ist. Andrea Baker als Ortrud und Bjørn Waag als Telramund entfalteten neben der enormen vokalen Durchschlagskraft zwar eine fesselnde Bühnenpräsenz. Aber da Wagners Musik nun mal keine Kraftsportveranstaltung ist, gebührt der Preis der eindrucksvollsten künstlerischen Leistung Johanni van Oostrums leuchtend klarer, einfühlsam phrasierter, ausdrucksvoll gestalteter, auch schauspielerisch enorm starker Elsa. Heiko Börners Lohengrin war zwar durch sein belegtes Timbre und eine mühsame Höhe beeinträchtigt, gestalterisch-interpretatorisch war aber auch seine vokale Leistung durchaus beachtlich. Uwe Schenker-Primus war ein ebenso machtvoller wie spielfreudiger Heerrufer-Regisseur, Daeyoung Kim ein anfangs etwas hohl orgelnder, später sehr charaktervoller König. Erwähnenswert auch die erstaunliche Bühnenpräsenz des kleinen Salim Bouslamti als Schwan und Gottfried.
Vor allem aber: ein nachdrückliches Lob für den Chor; Markus Oppeneiger und Fabian Wöhrle haben aus dem eigentlichen Opernchor, dem Philharmonischen Chor Weimar, dem privaten coruso Opernchor e. V. und dem Kammerchor der Hochschule Franz Liszt ein homogenes und auch schauspielerisch starkes Ganzes gebildet, das von Stefan Solyom, dem GMD des Hauses, vorzüglich koordiniert wurde. Eben die klare dynamische und zeitliche Strukturierung war die große Stärke seines Dirigats, die die großen Ensembles und auch viele kammermusikalisch transparente Orchestersätze zu Höhepunkten der Aufführung werden ließ. Allerdings klang da manches in seiner akkuraten Sauberkeit eher clean als verklärt, und manches Forte (nicht nur der Sänger) polterte arg derb.
Doch auch hier gilt bei allen Einwänden: Dieser „Lohengrin“ war ein eindrucksvoller Opernauftakt des neuen Leitungsteams, der in Kostümen und Requisiten sinnreiche Anspielungen auf den Ort der Uraufführung parat hatte und diesem Ehre machte.