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Das Buch der Bilder

George Benjamin: Written on Skin

Theater:Theater Bonn, Premiere:29.09.2013Regie:Alexandra Szemerédy und Magdolna ParditkaMusikalische Leitung:Hendrik Vestmann

George Benjamins Oper „Written on Skin“ ist eine Parabel über die Macht der Bücher. Oder allgemeiner ausgedrückt: über die Macht der Deutungshoheit in Schrift und Bild, die Benjamins Librettist, der hochgeachtete und vielgespielte britische Dramatiker Martin Crimp, eben in die Metapher des Buches fasst und daran mannigfaltige Assoziationen knüpft. Das Buch der Bücher, das Buch mit den sieben Siegeln, mittelalterlich Buchmalerei: Es ist beileibe keine beiläufige Pointe, dass Crimps Medea-haft grausame Geschichte von Engeln erzählt, ja eigentlich sogar von ihnen inszeniert wird. Man kann dieses Libretto, das nach der Vorlage einer anonymen provenzalischen Troubadour-Erzählung aus dem 13. Jahrhundert entstand, durchaus als negative Eschatologie lesen, als Frage danach, ob nicht die ganze Weltgeschichte von vorn herein falsch „bedeutet“ wurde, angefangen bei der einseitigen Zuweisung der Sünde an Eva bis hin zu den Auswüchsen einer angeblich gottgewollten Ordnung, wo die einen über die anderen herrschen.

Dass diese metaphysische Dimension in den Lobeshymnen, die „Written on Skin“ seit der Uraufführung im Juli 2012 in Aix-en-Provence nachgesungen werden, kaum eine Rolle spielte, hat zwei Gründe: erstens die Uraufführungsinszenierung von Katie Mitchell, die sich allzu sehr am atmosphärischen Realismus der Geschichte festsaugte; und zweitens Benjamins Musik. Benjamin ist ein Musikdramatiker von Rang. Seine Orchestersätze folgen den dramatischen Spannungszuständen des Librettos nervenfein und fieberkurvenhaft, kammermusikalisch facettenreich und exquisit instrumentiert. Und die kantable Expressivität seiner Vokalpartien gehört zum Besten, was das neue Musiktheater in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Da kann einer tatsächlich für die menschliche Stimme schreiben, kann ihre Schönheit zum leuchten bringen und ihr Ausdruckskraft abfordern, ohne dass das je epigonal oder kitschig klänge. Aber diese Musik einer erweiterten Tonalität, die auf einer Linie von Strauss über Britten und Henze bis zu Messiaen liegt, reißt keine Deutungsdimension auf – was bei einem Messiaen-Schüler gerade bei diesem Stoff ja verwundert.

Sie muss das aber vielleicht auch gar nicht, weil sie auch so faszinierend genug bleibt. Und man muss Crimps Verquickung von Mordgeschichte und Weltgeschichte auch nicht unbedingt gelungen finden. Aber wenn man dieses Werk inszeniert, sollte man sich damit auseinandersetzen. Und genau das hat jetzt das in letzter Zeit vielgelobte (und für seine „Madama Butterfly“ am Landestheater Coburg gerade eben für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominierte) Regie- und Ausstattungsduo Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka am Theater Bonn getan, wo der neue Intendant Bernhard Helmich in Kooperation mit dem Bonner Beethovenfest seine erste Spielzeit mit „Written on Skin“ eröffnete.

Das gewaltige Bühnenbild – eine diagonal fluchtende Felswand, an der das Zimmer des großmächtigen Protectors seltsam schief hängt wie ein Segment aus dem Rumpf eines gescheiterten Schiffes – kann man durchaus als Endzeit-Szenario lesen. Zu Beginn erwachen hoch droben hinter einer Reling die Engel in seltsamen weißen Gewändern, Schutzanzügen gleich oder Fantasy-Engelsroben. Das Spiel um das Schicksal eines Buchmalers, der beim Protector in Dienst tritt, um dessen vermeintliche Heldentaten in Buchmalereien zu verherrlichen, der dessen Frau aber in Liebe verfällt, dies in seinem Buch offenbart und dafür vom Protector ermordet wird: bei Szemerédy und Parditka wird sehr klar, dass die Engel diese Geschichte in Gang setzen, vielleicht um zu erforschen, wie es zu dieser trostlosen Endzeit gekommen ist. Mehr noch: indem sie immer wieder inszenierend und kommentierend eingreifen (der erste Engel spielt selbst den Buchmaler, der im Libretto nur The Boy heißt, Engel zwei und drei übernehmen die Nebenrollen von Marie und John), sorgen sie selbst für dieses böse Ende. Sind also die Menschen so böse, weil sie von bösen Engeln geleitet werden?

Das bleibt unklar. Aber durch diese Doppelperspektivik entsteht ein weites Feld von Assoziationsebenen, auf die Szemerédy und Parditka mit einer Vielzahl von faszinierenden Sinnbildern antworten. Da ist ein Lamm im Aquarium, das das Lamm Gottes sein könnte; ein Bogenschütze auf einem weißen Pferd gleicht einem apokalyptischen Reiter; Adam und Eva versuchen sich an einer neuen Schöpfung; Szenen von Gewalt, Sadismus und Unterdrückung begeben sich; Geschäftsreisende bevölkern die Bühne in sinnentleerter Hektik; der raubtierhaft patriarchalische Protector führt Agnès an einem Kettenhalsband – manchmal ist es des Bildertheaters ein bisschen arg viel. Aber die Assoziationen folgen durchaus den Bedeutungsspuren, die das Libretto legt.

Vor allem aber: In Bonn wird großartig musiziert und gesungen. Terry Wey gibt dem Jungen einen knabenhaft reinen, betörend klaren, wunderbar lyrisch geführten Countertenor mit ins Bühnenleben. Miriam Clark lässt das erwachende Begehren der Agnès in sinnlich schimmerndem Sopran-Timbre und vitalem Stimmstrahl Klang werden. Evez Abdulla ist als Protector ein Gewaltmensch von markiger Bariton-Schwärze. Die kleineren Partien sind mit Susanne Blattert und Tamás Tarjányi wahrlich nicht klein besetzt. Und das Beethovenorchester lässt unter Hendrik Vestmann, den 1974 in Tartu (Estland) geborenen neuen Chefdirigenten der Bonner Oper, den fein gearbeiteten Orchestersatz in aller Klangsinnlichkeit auferstehen.

Ein bisschen mehr konzeptionelle Stringenz im Szemerédy-Parditka-Bilderbuch wäre sicher nicht von Nachteil gewesen. Insgesamt aber war das ein mutiger Einstand von Bernhard Helmich und Hendrik Vestmann, den das Publikum in Anwesenheit des Komponisten einhellig bejubelte.