Foto: Uraufführung von Rebekka Kricheldorfs "Alltag und Ekstase" am Deutschen Theater Berlin. Nermina Jovanovic, Judith Hofmann (Sigrun / Gitta), Jannek Petri (Janne), Thomas Schumacher (Takeshi / Jonas), Franziska Machens (Katja), Harald Baumgartner (Günther) © Arno Declair
Text:Hartmut Krug, am 21. Januar 2014
Vermummt wie Kosmonauten hocken die Urlauber im kalten Wind beim Aufstieg auf den Mount Everest fest: Es ist Stau. Zu viele wollen auf den Berg, um aus sich herauszukommen. Sie schreien, gestikulieren und sind von der ersten Minute an unter Überdruck. Und während sie beklagen, dass „die Suche nach der Schönheit der Natur“ eine „solche Zumutung“ sei, zeigen sie uns, dass die Suche nach Individualität leicht in der Konformität des Andersseins stecken bleiben kann.
Rebekka Kricheldorfs neues Stück, ein Auftragswerk für das Deutsche Theater, ist eine ungemein witzige Zeitgeistkritik. Es geht um die Auseinandersetzung mit einem Selbstoptimierungszwang, der die ständige Arbeit an sich selbst mit der Forderung verbindet, über alles aber so was von völlig offen miteinander zu sprechen… Weshalb Katja (Franziska Machens), Ex von Janne und Mutter einer gemeinsamen Tochter, nach mal wieder Sex mit dem Ex, obwohl beide längst auseinander sind und sie sich mit anderen Männern versucht, morgens über das noch immer „stakkatohafte High-Speed-Gestoße“ von Janne (Jannek Petri) reden möchte. Während der meint, er sei doch schon viel langsamer geworden, um sich dann, wie auch später immer wieder, weiteren und tieferen Diskussionen zu entziehen, – indem er sein Asthma-Spray benutzt. Psychosomatisch, klagt seine Familie. Die, nach dem Prolog in Bergeshöhen, in einem Familiensuch- und Beziehungsspiel sitzt, heftig diskutiert oder sich in ethnologische Erfahrungsspiele entgrenzt. Dafür hat Bühnenbildnerin Claudia Kalinski einen ovalen Sperrholzkasten gebaut, den die ungemein einfallsreiche Regisseurin Daniela Löffner wie eine Manege nutzt. Hier kommt Kricheldorfs Familienaufstellung mit Selbsttherapie-Erfahrenen wie ein buntes Zirkusspiel daher. Jannes Mutter Sigrun (wunderbar nervig selbstbezogen: Judith Hofmann) baut Gemüse ökologisch an und ein solarbetriebenes Holzhaus für sich allein auf. Sie zieht sich aus der Familienverantwortung als Mutter und Großmutter für einen hohen Geldbetrag zurück und geht in ihrem Selbstverwirklichungsversuch ganz auf – bis ihr Eigenbau abbrennt….
Jannes Vater Günther ist ein vielgereister Ethnologe, der die „heteronormative Leitkultur“ unter anderem damit kritisiert, dass er alle möglichen fremden Kulte und Riten durchprobiert und durchtanzt: da folgt auf den indianischen Tanz der mexikanische Todesritus. Harald Baumgartner verkleidet sich dafür immer aufs Neue und gibt diesem verbissenen Sucher der Selbstentgrenzung neben seiner übergrotesken Komik auch eine sanfte Ernsthaftigkeit. Die stark auf die Probe gestellt wird, als sein japanischer Berufs- und Sexualfreund Takeshi (bewusst schrill übersteigert: Thomas Schumacher) zu Besuch kommt. Denn der bringt andere andere Regeln und Verhaltensweisen mit, setzt auf Drogen auf dem Weg zur Ekstase und möchte deutsche Volksriten erleben. Mit Karnevals-Schellenmaske, Oktoberfest-Lederhose und dem Bier in der Hand treibt er die Familie in ungeliebt prolliges Brauchtum. Wenn er den traurig in der Vergeblichkeit seiner Selbstoptimierung steckenden Janne in ein angeblich altgermanisches Ritual drängt, toben sich die Schauspieler in einem albernen Ringkampf mit Stierhörnern auf dem Kopf und viel Kunstblut auf nackten Oberkörpern aus.
Die Qualität der Inszenierung ist gleichzeitig ihre Gefahr: Regisseurin Löffner treibt die Hin-und-her-Dialoge der Autorin aktionistisch in wilde Spielsituationen. Die Figuren werden dabei nicht genauer kenntlich, sondern nähern sich eher Karikaturen. Auch der Autorin fällt zum Thema Selbstoptimierung und offene Aussprache allzu viel ein, sodass die immerhin zweistündige Aufführung im zweiten Teil von Redundanz gefährdet ist. Und dass das Klischee eines emotional vernachlässigten Kindes, der Tochter von Janne und Katja, das die Autorin nicht auftreten lässt, sondern nur beschreibt, hier, wenn auch stumm, als recht aktives dickes, böses Wesen durch die Szenen geistern darf, ist auch kein Gewinn für die Aufführung.
Wie Rebekka Kricheldorf Menschen bei ihrer modisch-modernen „Arbeit an sich selbst“ beschreibt, wie sie verdeutlicht, dass jeder identisch mit sich sein und anders sein will, es aber trotz allem Aus-sich-herausgehen nicht schafft, das hat dennoch Witz und Kraft. Und die Abwehr, mit der sich Günther, nachdem ihn sein japanischer Freund verlassen hat, gegen alle Erklärungen zu wehren sucht, besitzt einfach Klasse: „Kann ich hier jetzt nicht einfach mal sitzen und leiden, ohne dass da wieder jemand therapeutisch im Moment rumsteht, in meinem privaten Leidensmoment?“
Das Publikum jedenfalls hatte viel (Selbsterkennnis-?) Spaß an all diesen vielen privaten Leidensmomenten.