Foto: Probenfoto der "Prometeo"-Inszenierung in Darmstadt. Johannes Harneit, Thomas Eitler-de Lint, Opernchor des Staatstheaters Darmstadt © Michael Hudler
Text:Sabine Weber, am 10. Juli 2015
Viel ist diskutiert worden darüber, warum sich der komponierende mitunter zornige Revolutionär Luigi Nono so gewandelt habe. In den 1960ern geht der überzeugte Kommunist in Fabriken, um aus Wort und Geräusch Arbeiterproteste zu komponieren (La fabbrica illuminata). In seinen Opern prangert er gesellschaftliche Ausgrenzung an (Intolleranza) oder feiert die Revolutionen des Jahrhunderts (Al gran sole). Und seinem „Prometeo“-Prometheus, dem antiken Widerstandskämpfer gegen die Göttermacht verweigert er alles Heldenhafte? Nicht nur das, er löst den Feuerbringer quasi auf! Wie unerhört revolutionär dennoch Nonos letzte Oper „Tragedia dell’ascolto“ ist, zeigt die Tatsache, dass noch kein deutsches Opernhaus es gewagt hat, sie ins Repertoire zu nehmen. Wiewohl auf Festivals bereits vielfach immer mit Spezialensembles der Neuen Musik als Event gefeiert. Dieses Wagnis ist das Darmstädter Staatstheater jetzt eingegangen und hat für diese letzte Produktion der Saison auch einen unerhörten Ort gefunden. Die Handballhalle am Böllenhoftor! Und revolutionär ist Nono auch in dieser Tragödie beim Hören.
Die Musiker sind verteilt auf Podesten in verschiedenen Höhen entlang der Zuschauertribühnen rechts und links und an den Kopfseiten der Halle: vier große Orchestergruppen und kleinere Ensembles, der Chor und ein fünfköpfiges Solistenensemble bestehend aus zwei Sopranen, zwei Altistinnen und einem Tenor. Lautsprecher sind ‚allround‘ aufgebaut! Das Publikum sitzt auf dem Spielfeld auf Stuhlinseln. Mitten im Klang! Der Klang ist die Szene. Eine Handlung hat Luigi Nono dem Stück verweigert. Eine Bühne gibt es nicht. Der Tenor, Prometeo, agiert im Klang, der auch durch Live-Elektronik manipuliert wird. Prometeus‘ Widersacher Zeus wird genannt, aber ist erst gar nicht anwesend. Nonos venezianischer Freund Massimo Cacciari hat Textcollagen aus Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“, Walter Benjamins „Thesen über den Begriff der Geschichte“ aus Hesiod und Aischylos zu einem philosophischen Diskurs montiert. Auch Nietzsche und Hölderlin zitiert er. Teile der Texte im Libretto, werden sogar nicht gesungen sondern nur imaginiert. Und die gesungenen Texte werden so von der Musik absorbiert, dass sie kaum verstanden werden können. Dieser Prometeus ist gefesselt, auf sich zurück geworfen! Zu einem Revolutionär wird er in seinem Innenleben. Sein Drama ist die Hilflosigkeit, aus der heraus er menschliche Gebrechlichkeit zugeben kann. Die schonungslose Besinnung oder die „Stillstellung“, die diesem Bekenntnis folgt, ist die revolutionäre Chance, wie Benjamin es formuliert hat. Der Mensch, der seine Gebrechlichkeit anerkennt, sich im Stillen erneuert, ist in der Wüste unbesiegbar, heißt es im Schlusschor. Eine unerhört moderne Aussage, die vordergründigen Machern eine Absage erteilt und die Stärke im Schwachen erkennt! Stille hervorkehren, den Zuhörer auf sich selbst zurückwerfen und durch das Aufeinander-Hören neue Wege finden, das ist das dramaturgische Konzept von Nonos Musik. „Wo es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben“, soll Nono immer wieder zitiert haben. Das Zitat stammt von Robert Musil. Und in keinem Moment verkommt die Musik zu mystischem Trance-Theater. Klänge stehen, durchbrochen von abrupten Impulsen. Quasi Unisono-Töne reiben sich in Viertel- bis Achteltonverschiebungen. Dynamische Crescendi und decrescendi bis hin zu vierfachen pianissimo suggerieren Berge oder Meere in Fernperspektive. In einem Solistentrio wabert das Euphonium und wird elektronisch so verstärkt, dass es sich zu einem Donnern wie von Kampfflugzeugen steigert. „Ergreife den Moment“, heißt es da. Mit einem „Höre!“-„Ascolta!“ endet das Getöse in einem zauberhaften Fast-Durklang im Leisen. Der Vorhalt vor der Terz wird bis zuletzt nicht aufgelöst und reibt. Und doch ist die Auflösung zu spüren. Das Kurz-davor! Die Möglichkeit! Jeder spürt solche Klänge der veräußerten Innerlichkeit natürlich auf seine Weise. Aber mit Prometeo werden alle Zuhörer irgendwie zu Gestrandeten. Sie werden Teil der Tragödie beim Hören.
Irgendwie drängt sich an diesem Abend auch das Bild von gestrandeten Flüchtlingen in einer Turnhalle auf. Auf bunte Lichtbebilderung wird gänzlich verzichtet. Stattdessen werden Schlafmasken am Eingang verteilt, um mit geschlossenen Augen das Hörerlebnis verstärken können. Viele haben sie auch aufgezogen und machen es sich bequem. Das sieht fast lagemäßig aus. Plastikwasserflaschen liegen unter den Stühlen als Trinkration bereit. Die zweieinviertel Stunden laufen ohne Pause durch. Bis das Abenddunkel sich auch ganz natürlich in die Halle senkt. Das hat etwas Nüchternes. Und fokussiert einmal mehr auf das Hören. Und darauf kommt es an! Und ob mit oder ohne Augenbinde, dieser Prometeo bietet ein Hörererlebnis der besonderen Art. Die Aufführungsqualität ist grandios. Die Solisten Aki Hashimoto und Christina Daletska, die Altistinnen Tara Venditti und Annette Schönmüller sowie der Tenor Mineseok Kim händeln perfekt die Mikrointervalle. Ebenso wie der Opernchor des Staatstheaters Darmstadt unter der Leitung von Thomas Eitler-de Lint. Die Gesamtleitung hat Johannes Harneit, Komponist, Dirigent und ein Spezialist in Sachen Neue-Musik-Oper. In der Mitte der Halle auf erhöhtem Podest stehend und über Bildschirme omnipräsent in jedem Winkel der Halle, hat er die riesigformatige Partitur entspannt im Griff. Selbst bei größter Komplexität funktionieren noch die Einleitungen von Fermaten mit feinen Rubato-Effekten. An die 150 solcher Art Doppelpunkte und Denkpausen soll es in Nonos Partitur geben! Das Staatsorchester mutiert in dieser Produktion zu einem Neue Musik Ensemble, das jedem Spezialistenensemble Konkurrenz macht. Kaum jemals sind Stimmen verdoppelt. Jeder der geschätzten 70 Instrumentalisten spielt eine einzelne Stimme und rückt mit teilweise vier verschiedenen Instrumenten an, wie der Klarinettist Volker Hemken oder der Tubist und Euphoniumspieler Jack Adler-McKean. Wo sich die Glasspieler versteckt haben, ist in der 50er Jahre-Turnhalle aus Beton und Bretteroptik mit seinem Halbrunddach nicht auszumachen. Aber die drei Klangregisseure vom Experimentalstudio des SWR sitzen unübersehbar prominent mit Computern beim Dirigenten. Nono hat die elektronischen Klänge für die Uraufführung auch mit dem Vorläurerinstitut ausgetüftelt, dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stifung des Südwestfunks Freiburg. Das Experimentalstudio hat das Erbe angetreten. Und es wird auch bei der nächsten Prometeo-Premiere auf der Ruhrtriennale am 6. September wieder antreten. Aber erst einmal wird in Darmstadt gefeiert. Nonos letzte Oper nach Darmstadt zu holen, schließt auch einen Kreis im Leben des Komponisten. Seine Komponistenkarriere hat er in den 1950ern bei den Darmstädter Ferienkursen begonnen, die heute keine 200 Meter Luflinie entfernt vom Böllenhoftor stattfinden. „Darmstadt è una necessità“ – „Darmstadt ist eine Notwendigkeit“ soll Nono mal gesagt haben. Und das trifft auch auf diesen Darmstädter Prometeo zu!