Das Staatstheater Darmstadt zeigte Mut zur eigenwilligen Metaphysik im letzten großen Wurf der britischen Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth (1858 bis 1944). Auch für „BlickWechsel — Das Backstage-Festival“ wagte es die szenische Realisierung – einen Tag vor der nächsten Uraufführung „Jedermann. Jedermann ist niemand und niemand ist Jedermann“, dem „Meta-Mysterienspiel“ von Kieran Joe nach Hugo von Hofmannsthal. „Jugend ohne Gott“ und „Die Welt als Supermarkt“ sind vorbei. Jetzt folgt, die Bühnen-Bewegung wird immer deutlicher, überregionale Besinnung auf Nicht-Materielles. Doch dieses Umdenken fällt – nicht nur im Theater – trotz drohender Apokalypse durch Klimawandel und Dauerkrieg äußerst schwer.
Ein Meilenstein der Smyth-Rezeption
Die szenische Uraufführung am Staatstheater Darmstadt ist mit ihren weltanschaulichen Folgerungen demzufolge mehr als nur ein Meilenstein der Smyth-Rezeption. Schon in der 2021 bei Chandos erschienenen Gesamtaufnahme von „The Prison“, was Smyth für ihr bestes Werk hielt, hört man, dass es sich um große Musik handelt. Ethel Smyth hatte die konzertante Uraufführung in der Usher Hall Edinburgh am 19. Februar 1931 selbst dirigiert. Erhaltene Skizzen zu einer Gefängniskapelle und Regieanmerkungen bestätigen, dass sie an eine halbszenische Aufführung dachte.
Durch das blütenweiße Darmstädter Riesenfoyer schreiten einige Mädchen wie Engel eines vormodernen Krippenspiels. Sie tragen eine Alabaster-Büste der Komponistin und singen deren auch an die Wand projizierten „March of the women“. Dass Smyth in der Beteiligung an der Suffragetten-Bewegung 1912 einen zweimonatigen Gefängnisaufenthalt provozierte und dieses von Mitgefangenen gesungene Stück dort mit einer Zahnbürste dirigierte, ist heute noch immer viel bekannter als jede ihrer Kompositionen.
Nach diesem Prolog nimmt das Publikum auf der Bühne Platz, blickt Richtung Zuschauerraum. Das unter Johannes Zaun die delikaten Instrumentationswirkungen auskostende und sich erfolgreich gegen Länge-Gefühle stemmende Staatsorchester saß auf der fahrbaren Fläche des Grabens. Smyth hatte Ihren Textdichter Henry Bennet Brewster (1850 bis 1908) durch das ihr sehr nahestehende Ehepaar Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg in Leipzig kennengelernt. Die Besetzung wie in Brahms‘ „Ein deutsches Requiem“ – also (Bass-)Bariton, Sopran und Chor – erweiterte Smyth noch um einen Kinderchor. Die Darmstädter Chor-Ensembles (Einstudierung: Ines Kaun) singen eindrucksvoll, die Stimmen strahlen prächtig aus dem Zuschauerraum Richtung Bühne.
Ein Gefangener quält sich kurz vor seiner Hinrichtung auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Der Sopran bringt als Seele spirituelle Nahrung und Tröstung. Die Chöre sind Wesen in der anderen Welt. Smyths Partitur steht – kein Wunder bei einem privaten Kompositionslehrer wie Herzogenberg – mehr Richtung Brahms (der ihre Kompositionen ignorierte, weil sie eine Frau war), Mendelssohn und Elgar. Zu den hypertrophen Wagner-Epigon:innen und -ismen des frühen 20. Jahrhunderts wahrte sie vernehmlichen Abstand.
Brewsters Text ist der traditionellen Dramaturgie des religiösen oder symbolistischen Mysterienspiels verpflichtet. Der Mensch (ver-)zweifelt, ein außerirdisches Wesen belehrt und tröstet, die Chöre verheißen postmortale Geborgenheit. Das weiß die Regisseurin Franziska Angerer für ihre szenische Realisierung visuell und metaphorisch zu nutzen. Der Bariton Georg Festl sitzt in einem sandkastenartigen Quadrat. Er verknotet Reste aus der Textilproduktion. Angerer überträgt dem Gefangenen und den Gruppen symbolisch das Weben, Spinnen, Verstricken und Bestricken, was in vielen Kulturen Frauen zu deren Abschottung vom öffentlichen Leben mit Fesselung an Haus und Herd übertragen war.
Auf den Zuschauerraum senken sich Stoffbahnen. Diese pressen und zwingen alle in Beziehung zueinander. Das seit „Fridays for Future“ eine explosive Renaissance erlebende Axiom „Alles mit allem verbunden“ kannten bereits Smyth und Brewster. In Franziska Angerers Regie wird es zur zentralen, zwangsläufigen Bild-Aussage. Valentina Pino Reyes liefert auch blutrote Seile als variables Dekor. Diese legen sich wie Netze und Fesseln auf die Figuren. Anna McCarthy und Manuela Rzytki verteilen mit der Statisterie das Stoff-Geäder und setzen sich mit diesen choreographischen Rinnsalen in Beziehung zu Smyths musikalischem Strom.
Im Jenseits-Finale
So wird Brewsters nicht ganz einfacher Text fast zweitrangig. Schade – denn die Diktion von Georg Festl und Jana Baumeister ist außerordentlich gut, was die Verständnisbrücken zu „The Prison“ allerdings nur geringfügig vereinfacht. Festl glänzt mit einem markanten, sinnlichen Fast-Heldenbariton, Baumeister mit einer mehr irdischen als paradiesischen Stimme und gerade deshalb einem wärmenden Trost-Potenzial. „Ich bin die Seele… das Zuhause…“ bestätigen sich der Gefangene, seine innere Stimme und die Chor-Scharen im Jenseits-Finale, wenn sie den zermürbenden Individualismus hinter sich lassen und als spirituelle Atome endlich wahrhaftigen Spielraum erobern.
Smyths Partitur steigert sich zur bezwingenden Apotheose. Szenisch steigern sich mit ihr auch die requisitären Herausforderungen. Das Gefummle an den Stoffbahnen nimmt – obwohl im hinteren Parkett und damit in größtmöglichem Abstand zum Publikum auf der Bühne – der Stimmung etwas von ihrer Anmut und Würde. Und der sich herabsenkende Glühleuchten-Strauß zeigt, dass es mit den technischen Möglichkeiten des Digitalisierens und Pixelns eher noch schwieriger wird, eine angemessen mystische und transzendente Aura zu generieren. Valentina Pino Reyes‘ Chor-Jenseitswesen sind über schwarzen Overalls ausweglos verkabelt und vernetzt. Sie tragen rote Bollen, rote Irokesen-Zacken, rote Zöpfe. Das Malen paradiesischer und schlaraffenlandartiger Zustände war im Mittelalter und im Barock deutlich einfacher als in der heutigen Überflussgesellschaft, in der die Unterscheidung zwischen Qualität und Ramsch immer aussichtsloser wird.
So überlagert der orkanartige Schlussapplaus auch ein bisschen Ernüchterung. Denn wenn ein Werk-Rätsel wie „The Prison“ derart eindeutig lösbar ist, verliert es mit dem Restgeheimnis auch etwas von seiner Aura. Aber das ist eher ein philosophisch-ethisches Problem als ein theatrales. Als Vitamin-Pille gegen spirituelle Mangelerscheinungen eignet sich Angerers symbolstarkes Musiktheater-Zeremoniell bestens.