Foto: Das Trio aus der Nürnberger "Textil-Trilogie" © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 14. Oktober 2017
Natürlich hätte man das dreiteilige Stück im Blick auf das dicke, zumindest dick auftragende Ende mit dem Gleichstellungs-Kick vom „Leiharbeiter“ zum „geliehenen Leben“ oder dem zynischen Werbespot „Angstfrei leben, jetzt günstig möglich“ auch „Parolen-Triptychon“ nennen können. Die geflügelten Titel der zögerlich über zehn Jahre hinweg zusammengewachsenen dreifältigen Story von der Weltwirtschaft im dichterischen Behauptungs-Kopfstand sind ja allesamt Appelle von geradezu religiös inbrünstigem Befehls-Optimismus. „Man muss dankbar sein“ steht über dem ersten Drittel von Volker Schmidts Text, das schon 2007 in Wien Uraufführung hatte. Der dominierende Abgesang, ein Auftragswerk aus (und somit eine eigene Uraufführung für) Nürnberg, bilanziert „Wir sind glücklich“. Dazwischen, in deutscher Erstaufführung immerhin, die stimmungsaufhellende Anordnung „Ihr könnt froh sein“. Dankbar, froh und glücklich! Kann man da beitreten?
Es geht um die Schicksalsgemeinschaft von drei Näherinnen in einer Billiglohnfabrik, und sie hören wunderlicherweise auf halbwegs unexotische Namen wie Liesl, Kathi und Hanni. In der zähnefletschend grinsenden Versuchsanordnung des Autors sind die scheinbar eisernen Zivilisationsregeln von Arm und Reich in Nord und Süd vom Globus überrollt worden. Jetzt ist die wohlstandsspendende Großindustrie in einstige Entwicklungsländer abgewandert und das verarmt zurückgebliebene Europa muss zu Dumpingpreisen in Handarbeit das eigene Überleben improvisieren. Alles wie früher, nur seitenverkehrt. Der willkürliche Gedankensprung, ein zwangsläufig immer etwas stotternder Motor von Volker Schmidts Groteske, geleitet Absurdität durch Dialog-Drehtüren. Die betroffenen West-Frauen fragen sich, ob sie ihre verkümmernde Sehnsucht nach Glück aufgeben, modifizieren oder auf der Flucht nach Süden neu suchen sollen. Buchstäblich an der Nahtstelle zwischen Elend und Traum, eingepasst ins System der mit radikal korrigierten Vorzeichen „durchökonomisierten Welt“, entsteht ihr imaginärer Sitzstreik gegen den hemmungslos weiterrasenden Fortschritt. „Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen unserer Gesellschaft und eurer“, rufen die integrierten Migranten aus Old-Europa ins Auditorium und verlassen dafür die schützende Bühne. Dankbar, froh und glücklich könnten sie auch darüber sein, dass dem Regie-Team um Anne Bader knapp eine Woche vor der Premiere statt des knitternden Bandwurm-Titels aus den drei Aufrufen zu „Man muss…“, Ihr könnt…“ Wir sind…“ der vergleichsweise bügelfreie Begriff „Textil-Trilogie“ einfiel.
Ein vollgestopftes Regal mit Kleidungsstücken, bei denen man nicht drauf schwören möchte, ob gleich der Rotkreuz-Container oder Verona Pooth als Label-Repräsentantin zur weiteren Sachbearbeitung um die Ecke biegt, schmückt die Bühne von Luisa Wandschneider. Drei junge Frauen, mit Zopfperücken und Glockenrock schreckensreich uniformiert, präsentieren sich den angereisten Menschenrechtsprüfern einer NGO-Delegation (das sind wir, das Publikum), um ihre Fabrik von Ausbeutungs-Vorwürfen reinzuwaschen. Es geht ja um Arbeitsplätze. Mindestlohn bekommen die „kleinen Rädchen im Getriebe“ zwar nicht, aber man soll da immer beachten, dass sie „eine ganz andere Kultur haben“ und „dankbar“ sind, oder wenigstens sein sollen, für jede Anstellung. Man kennt das alles, nur eben irgendwie andersrum. Und wenn es der Wahrheitsfindung oder dem sozialen Wohlfühlen dient, wird in diesem Rahmen von früheren Nöten mit Hunger und Vergewaltigung erzählt. „Das war mein Leben“, sagt eine der Näherinnen lächelnd, und macht einen Knicks.
Der zweite Teil des Stückes führt auf einen Kleiderberg, aus dem das Frauen-Trio wie aus dem Meer auftaucht. Von der Flucht direkt ins nächste Chaos. Auf dem Schwarzmarkt ist das Leben wieder nichts wert. Aber dann, nach geradezu demonstrativ langer Umbau-Pause der Aufführung, stehen auf der plötzlich keimfreien Bühne drei Peepshow-Kabinen. Die Frauen machen also Karriere, werden „Luxus-Nutte“ oder wahlweise Hausmädchen mit sehr unterschiedlichen Pflichten. Sogar das deutsche Volkslied für Party-Gäste gehört zum Berufsbild, wohlwollend aufgenommen von der jetzt den Ton angebenden Gesellschaft. Hanni (Svetlana Belesova) war schon daheim aufsässig, hatte in der Fabrik zum Streik gerufen und erhebt sich nun wieder aus der Trägheit ihres übersichtlichen Wohlstands, Liesl und Kathi (Lilly Gropper, Ruth Macke) sortieren ihre abgenutzten Souvenir-Träume neu und wagen den Schritt zur Agitation über die Rampe hinaus. Die drei Schauspielerinnen entwickeln allmählich individuelle Charaktere aus der angezapften Sprachwut und lassen sie wieder fallen, wenn im neuesten, dem zornigsten Drittel die Solidaritäts-Worte wie die Fetzen fliegen. Da kann das Spiel mit der Gesinnung kaum mithalten.
„Zwickt der Tanga oder die Seele?“, lässt Volker Schmidt die Peepshow-Frauen im Moment höchster Melancholie erörtern. Vermutlich waren solche Dummy-Dialoge der Anlass, dem Autor eine Nähe zu Brachial-Poet Werner Schwab anzudichten. Es gibt diese Ähnlichkeit nirgends, denn Schmidts Sprache ist fern von artifizieller Kunst ganz auf die Steigerung und dadurch automatische Demaskierung von schiefen Alltags-Phrasen ins Groteske bedacht. Seine Zuspitzungen sind ein einziger „Nun begreift es doch endlich!“-Aufruf. Regisseurin Anne Bader, die an gleicher Stelle mit teils gleichem Ensemble Sibylle Bergs „Und dann kam Mirna“ mit scharfem Witz inszenierte, kann hier nicht auf Esprit setzen, denn die holzschnittige Trilogie klebt fest an der eigenen Schroffheit, die den Humor nur als Kollateralschaden duldet. „Ihr liebt euer Land nicht, sonst würdet ihr nicht davonlaufen“, wird den drei Frauen vom „Dreckhaufen Europa“ in niederschmetternder Pauschal-Logik vorgeworfen. Die Theaterbesucher haben kein Problem damit, die Spiegelung einer Stückescheiber-Utopie für den aktuellen Gebrauch umzudrehen. Bei der Premiere wirkte der lange Beifall auch wie eine Entkrampfungsübung fürs ständige Kopfnicken während der Vorstellung.