Foto: Von der Revolution umzingelt. © Benjamin Weber
Text:Bernd Zegowitz, am 27. April 2025
Regisseur Paul-Georg Dittrich unterzieht am Staatstheater Darmstadt Aubers „La Muette de Portici“ einer Frischzellentherapie. Die hilft ihr aber kaum. Die Patientin ist am Ende zwar nicht tot, aber arg mitgenommen. Rettung kommt von Megan Marie Hart, die sängerisch alles am Leben hält.
Um es gleich zu sagen: Niemand ist aus dem Theater gestürmt, keiner auf die Barrikaden gegangen, um die hessische Landesregierung zu stürzen oder Hessen-Darmstadt als souveränen Staat auszurufen. Den revolutionären Elan des Duettes zwischen Masaniello und Pietro, den die Theaterbesucher bei einer Aufführung von Daniel-François-Esprit Aubers „La Muette de Portici“ in Brüssel 1830 auf die Straße trugen und Revolution machten, hat der Regisseur Paul-Georg Dittrich am Darmstädter Staatstheater rausgenommen, die Musik unterbrochen, um den Zuschauern Zeit zum Nachdenken zu geben. Ein paar durften später auch auf die Bühne. Alle anderen blieben bis zum Schluss im Zuschauerraum, um den Regisseur beim Applaus mit einem Buhgewitter zu empfangen.
Vor dem Stück
Der Spot fällt auf eine junge Frau im Zuschauerraum. Die fühlt sich angesprochen, geht auf die Bühne und in das dort modern eingerichtete Zimmer. Sie macht den Fernseher an, die Ouvertüre beginnt mit einem orchestralen Aufschrei. Bilder der Zerstörung und des Krieges flimmern über den Bildschirm und die Bühnenwände (Video: Kai Wido Meyer). Letztere fahren dann nach oben, geben den Blick frei auf gemalte Kulissen eines Renaissanceschlosses, eines Parks und später einer Kirche. Die junge Frau (Franziska Dittrich) identifiziert sich mit einer ihr ähnlich sehenden beweglichen Puppe, die sie im weiteren Verlauf der Handlung mit einer zweiten Puppenspielerin (Lilith Maxion) bedient, die sie auseinanderlegt, neu zusammensetzt, immer wieder verändert.
Es sind die anrührendsten Momente einer Inszenierung, in der gleich zu Anfang an deutlich wird, dass es um kein weibliches Einzelschicksal geht, nicht um das der stummen Fenella, die vom Sohn des Vizekönigs von Neapel verführt und von ihrem Bruder, dem Fischer Masaniello, gerächt wird. Der löst einen Aufstand aus, den er nicht mehr kontrollieren kann und der alle mit in den Abgrund reißt. Die Revolution frisst eben ihre Kinder und auch die Frauen, denen Dittrich eine besonders laute Stimme verleiht.
Hin zur Gegenwart
Der Regisseur holt dafür alles auf die von Sebastian Hannak gebaute Bühne, was nicht ganz tief im Geschichtsarchiv vergraben liegt, also die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, den Darmstädter Georg Büchner, die 1830er-Revolution und natürlich die Gegenwart. Dafür wird der musikalische Ablauf immer wieder unterbrochen, werden italienische Partisanenlieder und deutsches Liedgut vorgetragen. Das revolutionäre Bühnengeschehen wird dadurch zur müden medial aufbereiteten Geschichtsstunde mit reflektierenden Passagen und ganz viel Zeit zum Einfühlen.
Und weil Frontalunterricht schwärzeste Pädagogik ist, wird die vierte Wand eingerissen, dürfen Darmstädter Bürger:innen und Theaterbesucher:innen mitwirken, nicht nur, aber vor allem, wenn die Handlung unterbrochen wird. Dann wird auf der Bühne diskutiert, der Zuschauerraum bespielt, werden persönliche Statements zur Weltlage verlesen. Dann dürfen die Sängerinnen und Sänger aus der Rolle fallen, werden selbstreflexiv Fragen der Operninszenierung auf der Bühne ausdiskutiert. Und darüber gehen fast die zusehends fragmentierte stumme Fenella-Puppe und ihre Spielerinnen verloren, die genügend Potential gehabt hätten, diese Inszenierung zu tragen.
Weg von Rossini
Der Dirigent Johannes Zahn hatte alle Mühe, Graben und Bühne zusammenzuhalten, was ihm nicht nur dadurch erschwert wurde, dass der musikalische Ablauf immer wieder zugunsten reflektierender Aktionspausen unterbrochen wurde, sondern auch, dass sowohl der Chor als auch die Sängerinnen und Sänger derart ungünstig positioniert waren, dass Übereinstimmung nur schwer herzustellen war. Zahn versuchte, Auber ein wenig von Rossini wegzudirigieren, hin zu mehr revolutionär-romantischer Färbung.
Matthew Vickers ist mit seinem geschmeidig-schönen Tenor vielleicht ein wenig zu leichtgewichtig für den Aufrührer Masaniello, Ricardo Garcia ganz sicher mit dem Alphonse überfordert, weil zu oft einfach auch nicht zu hören. Überragend aber ist Megan Marie Hart, die der Elvire all das verleiht, was die Figur auszeichnet: Mitleid und Empfindsamkeit, Leidenschaft und Pathos. Ihr Sopran ist ausdrucksstark, die Stimme beweglich, die Höhen sind ausgeglichen. Eigentlich stiehlt sie der stummen Fenella damit die Show.
Ob Aubers „La Muette de Portici“ das Stück ist, um Darmstädter Bürger:innen eine Stimme zu verleihen? Um mit Betroffenheitsprosa die textliche Leerstelle der Oper zu füllen? Das ist gut gemeint, aber damit wird sie zu einer sehr langen Bürger:innensprechstunde!