Im Stück besteht die Rolle der vier Darsteller oft darin, das Pro und Contra einer digitalen Gesellschaft abzuwiegen; späterhin wird dringlicher gewarnt vor totalitären Tendenzen der Vernetzung. Parallel zur diskursiven Ebene entwickelt Ian De Toffoli jedoch sein Fallbespiel weiter, lässt die Schauspieler die erst noch stereotypen Figuren mit Leben füllen, individuell werden. In diesem Wechselspiel liegt die eigentliche Qualität des Stückes, aus ihm heraus entwickelt sich eine Dynamik, die dem Geschehen überraschende Wendungen gibt.
Zum Leben erweckt
Zuerst jedoch sind da Vinzent, Max und Laurenz, reichlich angeheitert: Ein Programmierer, ein Ingenieur in Führungsposition und ein Marketingfachmann. Global Automative Systems heißt das Unternehmen. Sie sind aufgekratzt, eitel, im Rausch auch des Erfolgs: „Wenn wir es schaffen, den chinesischen Markt zu interessieren!“, kreischt einer.
Nika Wanderer, ein weißer Umhang liegt nun über ihrer schwarzen Kleidung, tritt auf als Sarah, die KI, die Vincent nach einer frühen Liebesenttäuschung benannte. Sie spricht, verdeckt von einer Reihe schmaler metallischer Spiegel: „Du hast mir gefehlt heute“, sagt sie zu ihm – nun besitzt er sie, nun befielt er ihr.
Wanderer wird später dann Nadine spielen, das Unfallopfer, fast ein Sozialfall, eine „Klickarbeiterin“, die Dateien mit sekundenkurzen Sprachaufnahmen herstellt, den Künstlichen Intelligenzen ihre Stimme leiht, zu einem Maximalverdienst von fünf Euro in der Stunde. Vincent wird versuchen, Nadine aus ihren Daten zu rekonstruieren, sie wieder zu erschaffen – Schuldgefühl und sexuelles Begehren überschneiden sich dabei. Die vernetzte Zukunftsgesellschaft des Stückes ist männlich dominiert, die Frau wird dienstbar gemacht, als virtuelle Assistentin, Geliebte, fürsorgliche Mutterfigur: „Ich fahre, wenn Ihr alle angeschnallt seid.“
„HumanApp“ nimmt schließlich Motive auf, die ins Religiöse, Mythologische weisen. Die Legende von der Erschaffung des Golems wird zitiert. Nika Wanderer, eingeschlossen vom spiegelnden Metall, getaucht in rotes Licht, erinnert an eine Frankensteinfigur oder an die Maschinenfrau in Fritz Langs „Metropolis“.
Kreislauf der Katastrophe
„Heaven is a Place on Earth“ heißt der Pop-Song, den Nadine im Ohr hatte, als sie vom selbstfahrenden Auto erfasst wurde; ein Paradies auf Erden, frei von Krankheit und Armut – das soll die vernetzte Zukunft sein. Stattdessen drohen: Kontrolle, Selektion, Gehirnchips, die Gesundheitsdaten übermitteln, neue Gehorsamsstrukturen, kalte Prioritäten. Janin Lang hat die Bühne des Pforzheimer Theaters mit Symbolen überhäuft: Ein Kreuz hängt weit oben an der Wand, unter wohlgestutzten Büschen liegen Absperrbänder, Blut. Immer wieder tauchen im Bühnenbild Motive von Hieronymus Bosch auf.
Nur Laurenz, der Marketingmann, will heraus aus dieser Welt. Timon Schleheck spielt ihn zusehends hysterischer. Er streitet mit Max, der nicht vom Glauben abfällt; er löscht seine digitale Existenz ganz aus, erlebt die Konsequenzen, geht umher und übermalt die vielen Spiegel, die sich auf der Bühne finden. Andreas C. Meyer indes lässt Vincents Gefühle für die digitale Nadine in gefährliche Besessenheit münden: Er stürzt sich auf sie, aber im Höhepunkt kehrt der Blitz, der Crash, der Autounfall zurück. Und das Fallbeispiel beginnt vorn vorne.
Mit „HumanApp“ hat Ian De Toffoli ein Stück geschrieben, das stark polemische Anteile besitzt, für ein wichtiges Thema aber eine zuletzt überzeugende Form findet. In Pforzheim erlebt man es in einer ebenso überzeugenden Inszenierung.