Foto: Szenenfoto mit Susann Thiede
© Bernd Schönberger
Text:Gunnar Decker, am 29. Januar 2024
Am Staatstheater Cottbus bietet uns „Alles” von Alistair McDowall einen Lebensbogen von der Wiege bis zur Bahre – und damit ganz intimes Welttheater. Die Zuschauenden folgen einem Theater-Streifzug durchs Haus und erleben von der Wiege bis zur Bahre alles.
Auf dem Dach des Cottbuser Staatstheaters, dieses schönen Jugendstilbaus, stehen drei Bienenstöcke. Den Honig kann man an der Garderobe kaufen. Wem das zu abwegig klingt, der ist bei „Alles” von Alistair McDowall ohnehin fehl am Platze. Denn hier geht es einhundertzehn Minuten lang um jene kleinen Episoden, die am Ende alles sind. Ein Lebensbogen von der Wiege bis zur Bahre – intimes Welttheater.
Zu Beginn von „Alles” in der Regie von Rafael Ossami Saidy werden die etwa zwanzig Zuschauenden vom Foyer mit einer Art Fanfarenstoß über enge Treppen in den Keller hinab gebeten – mit dem freundlich wiederholten Hinweis, unterwegs nicht zu trödeln. Immer beginnt alles tief in enger Dunkelheit. Und wir, im Bauch des Theaters, haben Teil am Weltwerden des Ich. Mit der Geburt geht jedes Ich auf eine Entdeckungsreise, erobert sich ein Stück von der Welt, um es dann wieder zu verlieren. Am Ende steht der Tod, die Auslöschung individueller Existenz. Und wieder beginnt der Kreislauf von neuem. Wir folgen vier Schauspielerinnen von Lebensstation zu Spielstation.
Dies einen Theater-Streifzug zu nennen, klingt irreführend nach einem informativen Rundgang. Aber das ist es nicht. Von Station zu Station, die wir hier durchlaufen, passiert das, was man das Verbrauchen von Wünschen nennen kann. Wenn alle Lebens-Wünsche aufgebraucht sind, was wartet dann bei der letzten Station? Die hier federleicht daherkommende Metaphysik, in homöopathischen Dosen verabreicht, wirkt am Ende doch unweigerlich tödlich.
Hat diese auch „Bewusstseinsstrom” genannte Geburt-und-Tod-Meditation etwas genuin Theatralisches? Ja, denn was der Textform nach ein fließender Monolog sein könnte, findet an den wechselnden Spielorten kunstvoll zur Solo-Performance. Lauter sorgsam gearbeitete Miniaturen, mal wortreich, mal schweigsam. Mal allein wie für sich selbst, mal chorisch zum Publikum gesprochen oder (sehr gut) gesungen zu den prägenden Hits der Jugend. Mal vom Thema Sex besessen, mal der romantischen Liebe nachträumend. Jeder dieser Daseins-Partikel behauptet mit allem Nachdruck: Dies bin ich in einer bestimmten Phase meines Lebens, die längst vorbei ist, aber dennoch zu mir gehört!
Jeder stirbt. Denk nicht dran
Die vier Schauspielerinnen setzen abwechselnd immer wieder ein einziges Leben ins Bild, mit veränderten Spielorten als Weltwiderstandssimulation. Da beginnt dann das zu kreisen, was einmal „alles“ gewesen sein wird. Vom Keller bis zum Dachboden des Theaters, von der Kantine bis zur Seitenbühne, vom lustvoll DADA-Worte in die Welt kreischenden Kleinkind bis zur lebensmüde seufzenden Greisin. Es eint sie, dass sie den Lauten nachlauschen. „Gut ja, schlecht nein.“ Die Wahrheit erster infantiler Sprechversuche ist auch die der letzten. Das Leben ein einziges Rauschen, vorbei und weg? Jedenfalls mehr Mühe und Enttäuschung als fortgesetzte Lust.
In den Anfang ist alles gelegt, auch hier. Denn so viel Jubel über einfachste Dinge wird später nie mehr sein. Leben ist fortgesetzter Libido-Verlust, das zeigt dieser Abend in meist heiter daherkommender Brutalität. Wir werden nicht mehr im Fortschreiten der Zeit, sondern weniger! Es beginnt mit dem Gutenmorgenkreis im Kindergarten und setzt sich in der Schule fort. Aus Spiel wird Ernst: „Jeder stirbt. Denk nicht dran. Ich habe eine neue Jacke. Jeder stirbt.“
Vier Frauen, vier Medien
Sophie Bock, Nathalie Schörken, Susann und Lucie Thiede (Mutter und Tochter vereint im Ensemble) finden das richtige Maß von Nähe und Distanz, das dieser herausfordernde Text braucht. Sie sind alle vier Medien für die imaginäre Figur, die keinen Namen hat, die jeder und jede von uns sein könnte. Und doch ist da auch etwas Eigenes in ihrem Spiel, das die Möglichkeiten andeutet, im Gleichen Verschiedenes zu bevorzugen. Ist da mehr Trotz oder mehr Traum? Vielleicht wechselt dies zu verschiedenen Lebenszeiten ebenso wie Verzagtheit mit Verwegenheit. Heute noch ruft die dreizehnjährige Siebenklässlerin: „Ich mag Roboter und keinen Boccoli!“, um dann morgen verwundert zu konstatieren, dass die Menschen immer so riechen wie ihr Zuhause. Auf dem Land oder in der Kleinstadt anders als in der Großstadt. Aber wo riecht wer am besten – und für wie lange? Das herauszufinden, scheint eine lange irrtumsreiche Reise.
Eigentlich wollte sie Dichterin werden, sagt die jetzt schon junge Frau, die kurz darauf einen künstlerisch begabten Mann heiratet und statt „neue Horizonte im Management“ zu erschließen, ein Baby bekommt. Die Zeit vergeht mit schlaflosen Nächten und unbemerkter Selbstaufopferung, der Mann ist immerhin begabter als sie – und bleibt dies auch nach ihrer Trennung. Plötzlich die schockierende Erkenntnis, die sie überfällt: „Ich glaube, ich habe nie einen dichterischen Gedanken gehabt.“ Zu spät? Nein vielleicht nicht, wenn man bescheiden ist und seine Bühne im Lyrik-Seniorenclub der Kleinstadtbuchhandlung findet.
Ist das eigentlich traurig, die Geschichte eines fortgesetzten Sich-selbst-Enttäuschens? Vielleicht auch das, aber wie nachdrücklich sich hier diese vier Schauspielerinnen als Ich-Partikel der glückhaften Hoffnungsfunken versichern, denen kein Scheitern etwas anhaben kann! Da beschleicht einen am Ende dieses auf ganz unerwartete Weise starken Theaterabends das Gefühl, das gelingendes Leben gar nicht anders sein kann als wir es hier gesehen und gehört haben.