Foto: Sexarbeiterinnen auf der Showbühne. V. l. n. r.: Martiniana Antonie (Mercédès), Nikola Hillebrand (Frasquita), Jelena Kordić (Carmen) und Lucía Astigarraga (Lillas Pastia) © Hans Jörg Michel
Text:Detlef Brandenburg, am 14. Dezember 2019
Corrida mit Carmen
Georges Bizets „Carmen“ gehört zu den Opern, die immer in Gefahr sind, an ihrer eigenen Beliebtheit zu ersticken. Denn die Beliebtheit zieht viele Inszenierungen nach sich. Die produzieren nahezu zwangsläufig auch Inszenierung-Klischees. Und die will am Ende keiner mehr sehen. Aber weil Bizet so eine gute, vitale Musik komponiert hat, wird mit man auch nicht recht glücklich, wenn auf der Bühne eine pure Negation stattfindet und am Ende nichts mehr übrig ist, was dieser Musik korrespondiert. Mit anderen Worten: Es ist heute schwer, „Carmen“ auf der Höhe unserer Zeit zu inszenieren – zumal in einer öffentlichen Gemütslage, die sich sehr kritisch gegenüber Klischees von sexualisierter Weiblichkeit verhält. Insofern muss man es der südkoreanischen, bereits seit langem im deutschsprachigen Raum tätigen Regisseurin Yona Kim schon mal hoch anrechnen, dass es ihr gelingt, diese Klischees nicht einfach zu dekonstruieren, sondern sie ernst zu nehmen – indem sie deren soziale Funktion analysiert.
Wichtig für diese Inszenierung ist zunächst, dass Herbert Murauers Bühne alle Assoziationen zum einschlägigen Lokalkolorit konsequent vermeidet. Sie will keine wirklichen Schauplätze darstellen, nicht den Platz in Sevilla oder die Taverne von Lillas Pastia, sondern einen Spielraum zur Verfügung stellen. Und auch Falk Bauers Kostüme, die durchaus spanische Trachten zitieren, gestehen durch ihr zitathaftes Aussehen ihren „Verkleidungs“-Charakter immer ein. Die Bühne ist eine Bühne ist eine Bühne: ein nüchterner grauweißer Raum, dessen schwarze Rückwand vor- und zurückfahren kann und sich beizeiten öffnet und schließt wie eine Kamerablende. Es sind die Bretter, die die Sünde bedeuten. Denn hier spielt die Carmen-Show, eine sinistre Gruftie-Veranstaltung in schwarzen Sadomaso-Kostümen. Und das Ensemble teilt sich oft auf in die, die bei der Show mitspielen und die, die der Show zuschauen.
Diese Bühnengesellschaft ist repressiv. Die Kinder werden von einem Priester als kleine Toreros gedrillt. Die Soldaten unterdrücken alles, was regelinkonform ist. Deshalb leiden sie alle unter Triebstau, vor allem die Männer sind hier schwer #MeToo-gefährdet. Micaëla hat nichts zu lachen, wenn sie unter die Soldaten gerät; die gehen ihr sofort an die Wäsche. Damit diese übergriffige Triebenergie kanalisiert wird, darf Carmen mit ihren Gefährtinnen Frasquita und Mercedes hier die laszive, immer sexbereite Frau geben, als Projektionsfläche männlicher Begierden und möglicherweise auch als deren dienstfertige Erfüllung. Diese Gesellschaft braucht die Carmen-Show als (mehr oder minder) sublimierte Sexarbeit. Problematisch wird die Sache erst wenn sich ein Dienstleistungsnehmer tatsächlich in eine Sexarbeiterin verliebt. So wie Don José in Carmen. Dann greift die Gesellschaft ein. Deren Repräsentantin ist die bei Yona Kim alles andere als liebe und unschuldige Micaëla. Sie sorgt zielstrebig dafür, dass Josés Liebe scheitert: erscheint pünktlich zum Zapfenstreich, der Josés und Carmens Zweisamkeit zerstört; ruft im rechten Moment den Leutnant Zuniga herbei, damit der den Brigadier auf Abwegen wieder einfängt; ködert schließlich José mit der Story von der sterbenden Mutter. Als aber alle diese Bemühungen scheitern, da wird das Abschlachten der Carmen selbst zur Show, in schon von Bizet vorgegebener offener Parallelität zur Corrida. Und nachdem der Mord vollbracht ist, da ist der völlig gebrochene Don José reif für die Ehe mit Micaëla, die prompt im Brautkleid die Bühnentreppe herabkommt. Er wird fortan ein braver Gatte sein.
In diesem konzeptionellen Ansatz erinnert Yona Kims Inszenierung verblüffend jener, die Lorenzo Fioroni 2011 in Augsburg herausgebracht hat. Nur dass Fioroni inhaltlich konsequenter und auch zynischer zu Werke ging. Damals war Micaëla von Anfang an die Regisseurin der Romanze ihres zukünftigen Ehemanns: ein so kaltblütig wie blutig ins Werk gesetzter Junggesellenabschied als Initiationsritus einer geschlossenen, erstarrten Gesellschaft. Yona Kim dagegen orientiert sich in ihren Mitteln stärker am Motiv des Spiels im Spiel. Schon Carmens Erscheinen auf dem Platz in Sevilla ist so eine Shownummer. In Lillas Pastias Kneipe kippt das Sex-Tingeltangel ins surreal Typisierende, wo plötzlich alle Choristen bzw. Statisten riesige Carmen- und Caballero-Köpfe tragen. Und der Strippenzieher ist hier Lillas Pastia – eine Frau, langbeinig, erotisch und zungenfertig, denn sie – verkörpert von Lucia Astigarraga – spricht auch die spanischen Zwischentexte, gewonnen aus dem Libretto, die die Dialoge ersetzen. Phasenweise verselbständigt sich das Theater-auf-dem-Theater-Motiv allerdings zu sehr, wird zum Selbstzweck und vertändelt sich in den eigenen Mitteln. Aber aufs Ganze gesehen bieten Yona Kim und ihr Team ein starkes konzeptionelles Setting für diese Oper.
Auch Mark Rohde, dem 1. Kapellmeister am Nationaltheater, gelingt eine profilierte Interpretation der „Carmen“. Er lässt das Orchester bisweilen sehr elastisch und farbenreich spielen und bringt so das Atmosphärische, den Kolorit der Musik zur Entfaltung. Dass er auch mal langsame Tempi wählt, ist durchaus wohltuend – operettige Hurtigkeit war bei dieser Oper schon immer eine unpassende Verharmlosung. Rohde ist in den Tempi sehr flexibel, was auch zu wunderschön organischen Übergängen führt. Nur die Akzentuierung könnte manchmal pointierter, trockener, schärfer sein.
Das Nationaltheater hat die Produktion komplett aus dem Ensemble besetzt – und kann vor allem auf die seine Micaëla sehr stolz sein: Eunju Kwon wertet dieses Mädchen vom Lande zur sexy Lady in Pink auf und singt sie mit schlanker, lupenrein klarer, perfekt fokussierter und leuchtend tragfähiger Stimme. Vom Stimmtyp her könnte diese Figur durchaus weicher, wärmer klingen; in diese Inszenierung aber passt Eunju Kim perfekt. Die Mezzosopranistin Jelena Kordić singt die Carmen präsent und mit attraktiv schimmerndem Timbre. Das Herbe und Glühende dieser Figur bleibt unterbelichtet, da klingt bei Jelena Kordić manches zu hübsch, zu hell, vielleicht auch zu tremolierend. Irakli Kakhidze gibt als den José als spitzentonverliebten italienischen Schmetter-Tenor mit einigen Verismo-Schluchzern als expressiver Beigabe, was Eindruck schindet, aber stilistisch anfechtbar ist. Und Evez Abdulla ist ein zwar kraftvoller Torreador, dem aber doch unangestrengte Grandezza fehlt und auch die tragende Tiefe. Unter den vielen guten kleineren Rollen ragt die Sopranistin Nikola Hillebrandt als strahlende Frasquita heraus.
Nach meiner Vorstellung am 13. 12. 2019: Rauschender Beifall für alle!