Foto: „Drei Männer im Schnee“, hier: Armin Kahl (Dr. Fritz Hagedorn), Alexander Franzen (Johann Kesselhuth), Erwin Windegger (Eduard Tobler) sowie Ensemble und Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz. © Christian POGO Zach
Text:Roland H. Dippel, am 1. Januar 2021
Mit dem Auftragswerk „Drei Männer im Schnee“ räumte das Gärtnerplatztheater seit dessen Uraufführung am 31. Januar 2019 drei wichtige Musicalpreise ab. Die ‚Revueoperette‘ geriet zur Besten seiner selbstkreierten Sahneschnitten seit Wilfried Hillers und Michael Endes „Der Goggolori“ (1985). Die Zutaten für diese Gärtnerplatz-Spezialität sui generis: ein als Roman und Film bekanntes Sujet, seine der südbayerisch-österreichisch-alpinen Region verbundenen Autoren und Komponisten sowie ortsspezifische Lösungen mit allen Möglichkeiten von Musik, Bewegung und Text. Intendant Josef E. Köpplinger, den man aufgrund seines paritätischen Einsatzes für alle Musiktheater-Gattungen ans Haus geholt hatte, inszenierte selbst.
Jetzt gibt es das Kürstück nach Erich Kästner, der viele Krisensymptome der späten Weimarer Republik in seinem 1934 erschienenen Roman spiegelte, als Kooperation mit dem Medienpartner BR-Klassik im Stream zum Jahreswechsel. Von den insgesamt acht zwischen 14. Oktober 2020 und 6. Januar 2021 geplanten Vorstellungen fanden noch drei vor echtem Publikum statt. Kurz davor erschienen die CD und das Songbook, das nächste Musical-Auftragswerk „Mata Hari“ wird vorbereitet.
Inzwischen hat man am Gärtnerplatz für Transformationen von Bühnenaufführungen für ‚echtes‘ Publikum zu einer Bühnenaufführung für ‚digitales‘ Publikum schon viele Erfahrungen gesammelt. Vorausgegangen waren Humperdincks „Hänsel und Gretel“ in der fast 50 Jahre alten Inszenierung von Peter Kertz, Donizettis für den Stream von einer konzertanten zur halbszenischen Präsentation auffrisierte „Anna Bolena“ und Lukas Wachernigs Neuinszenierung von Künnekes „Vetter aus Dingsda“ genau zum vorgesehenen Premierentag.
Und man entwickelte Präsenz-Strategien, die während aller Auswirkungen von Corona beibehalten werden konnten. Auch während der Schließzeiten hängen Fotos und Plakate zum (digitalen) Spielplan in den Schaukästen. Dem digitalen Publikum baute man Vertrauensbrücken und zu jedem Stream gibt es den Profiltrailer. Der Prinzipal (mit Cap im Chefsessel mit schlankem Design) empfängt Mitwirkende zum Pausentalk. Der Ton ist locker und anspruchsvoll, die technische Qualität astrein: Treue Zuschauer*innen wissen inzwischen genau, welche Bücher im Regal des Intendanzbüros stehen.
„Drei Männer im Schnee“ ist die erste Gärtnerplatz-Ausstrahlung als vorab produzierter Mitschnitt. Die bisherigen Streams waren Direktübertragungen. Filmisch-digitale Perfektion will Aufnahmeleiter Raphael Kurig für die „adaptierte Fassung“ von „Drei Männer im Schnee“ und die anderen digitalen Transfers vorsätzlich nicht: Diese dürfen nie gleichwertige Alternativen zu dem physischen Vorstellungsbesuch sein. Im besten Fall haben sie die animierende Kraft eines Aperitifs. Hygienekonzepte setzt man ohne Ausnahme um, diese gelten für Beziehungspartner*innen von Mitwirkenden wie für Journalist*innen. Als befeuerndes physisches Publikum sitzen nur Hausmitglieder mit aktuellen Testergebnissen im Zuschauerraum.
Wegen einiger theatraler Risikofaktoren hatte man sich ausnahmsweise für eine vorgezogene Aufzeichnung durchgerungen. Nur bei groben Pannen sollte unterbrochen werden, um die humane Lebendigkeit für die digitalen Plattformen weitgehend zu bewahren. Wegen der Abstandsregeln verlegte man einen Teil der aberwitzig schnellen Umzüge von den Seitenbühnen in das Parkettfoyer. Die Transformation in eine Corona-kompatible Aufführung erfolgte seit Herbst in erzwungenen Raten. Erst musste man die große Orchesterbesetzung auf das zugelassene Volumen verkleinern – dadurch wurden die subtilen Weill-Reminiszenzen in den Kompositionen von Konrad Koselleck, Christoph Israel, Benedikt Eichhorn und Thomas Pigor von mehrdeutigen Andeutungen zum akustischen Hauptereignis. Der raffinierte Eklektizismus vergröberte. Durch das Weglassen des Kinderchors und die auf ein Drittel geschrumpften Kollektive dachte man beim Gästeaufkommen im Grand-Hotel Bruckbeuren eher an Thomas Manns „Zauberberg“-Sanatorium als ans „Weiße Rössl“. Das wuselnde Drumherum, Köpplingers Spezialität als Regisseur, ist leider erst nach der Pandemie wieder verfügbar. Deshalb bliebt auch von Adam Coopers Choreografie meist nur das motorische Skelett.
Viele erforderliche Anpassungen von Musik und Szene setzte das Ensemble mit souveräner Professionalität um. Der visuellen Nähe durch die Kameras und den Abstandsregeln zum Opfer fielen die Pointen aus der Reibung vom Etikette-Schliff der Eliten und den prickelnden Umtriebigkeiten der intimen Szenen. Im Stream musste das Gärtnerplatztheater also auf einen seiner Musical-Haupttrümpfe verzichten: die große wirkungsmächtige Orchester-, Chor- und Ballettbesetzung. Zuletzt zeigte sich bei Franz Hummels „Ludwig“-Musical am Theater Regensburg, wie ein originäres Musical nach einer Longrun-Produktion durch die sorgfältige Aufführung eines Subventionstheaters an Qualität und Intensität gewinnt.
Trotzdem gab es für das Stream-Publikum bei „Drei Männer im Schnee“ einige Aha-Erlebnisse. Anders als beim „Vetter aus Dingsda“, bei dem man auf den Monitoren die beabsichtigen Kontraste vom Knallrot der Gartenzwerg-Zipfelmütze zum Zukunftslook der Bauten nur erahnen konnte, wurde Rainer Sinells Alpenpanorama in Weiß-Blau-Schwarz mit den gedeckt-satten Farben der Kostüme Dagmar Morells als künstlerischer Eigenwert erkennbar. Die Analogien des Jahreswechsels vor der sogenannten Machtergreifung 1933 in Pigors Kästner-Adaption zur mitteleuropäischen Wirklichkeit an Silvester 2020 gerieten unaufdringlich deutlich. Gleichzeitig bewies die Revueoperette „Drei Männer im Schnee“ im Vergleich zum österreichischen Schwarzweißfilm mit Erich Kästners Drehbuch (1955), natürlich auch zum bayerischen Remake mit Roberto Blanco und Ingrid Steeger (1974) konzeptionelle Originalität. Durch den Megadeal mit Kühlschränken für den Nahen Osten verpasste Pigor der Satire Kästners den globalisierenden Aufputz.
Köpplinger wünschte in seinem Neujahrsgruß ein weiterhin buntes Theater für alle. Dieses zeigte in der gelichteten und deshalb dezent distinguierten Silvestervariante zwar nicht den Schwung der originalen Personal- und Materialschlacht, wohl aber die Spiellust eines fast hundertprozentig österreichischen Originalprodukts in der Laptop-Lederhosen-Diaspora. Nur hat‘s diesmal nicht der Champagner verschuldet wie im traditionellen Silvesterknaller „Die Fledermaus“, sondern Corona.