Foto: Sturm im Weltall... ...mit dem Chor der Oper Frankfurt © Monika Rittershaus
Text:Andreas Falentin, am 26. Februar 2018
Tobias Kratzer zeigt Meyerbeers letzte Oper als Science-Fiction-Epos – mit großer Stringenz und einem von dem Tenor Michael Spyres angeführten großartigen Sängerensemble
Fast fünf Stunden dauert, inklusiver zweier Pausen, die Aufführung von Giacomo Meyerbeers letzter Oper. Der Komponist legte die endgültige musikalische Gestalt seiner Stücke in der Regel erst während der Proben fest – und starb in diesem Fall vor Probenbeginn. So ist also diese Partitur, die Meyerbeer als „Vasco de Gama“ gedacht hatte und die 1865 posthum als „L’Africaine“ das Licht der Pariser Welt erblickte, in höherem Sinne eine dramaturgisch strukturierte Materialsammlung. Vor vier Jahren nutzte man in Chemnitz erstmals eine neue historisch-kritische Ausgabe, mit der jetzt auch die Frankfurter Oper umgeht.
Der Regisseur Tobias Kratzer und der Dirigent Antonello Manacorda haben überraschend wenig gekürzt. Das führt durchaus zu kleineren musikalischen Durststrecken, zeigt aber die dramatische Struktur sehr konturenscharf, zumal Kratzer sich dieser unterwirft, das filmisches Arbeiten quasi antizipierende Wechselspiel von weit aufgezogener Totale, intimen (Großaufnahmen-)Momenten und quasi halbtotalen Ensemblesätzen präzise herauspräpariert, ohne je aufdringlich zu werden. Das Ergebnis ist eine überraschend klare Lesart.
Wir sind in der Zukunft. Rainer Sellmaier hat weiß dominierte Räume entworfen. Das Foyer einer großen Institution samt Konferenzraum im ersten, ein skurriles Laborgefängnis im zweiten Akt. Dann geht es in ein Raumschiff und die letzten Akte spielen auf einem fernen Planeten, inmitten undurchschaubar futuristischer Pflanzenzucht. Die Anordnung ergibt zwingend, dass die portugiesischen Seefahrer hier Raumschiffe steuern und die afrikanische, indische oder madegassische Titelheldin ein Alien ist, am ganzen Körper in eng anliegendes „Avatar“ – blau gewandet. Die Videos von Manuel Braun verleihen dem Ansatz zusätzlich Glaubwürdigkeit, verankern ihn mit dokumentarischen Zwischenakteinspielungen in der Realgeschichte und brechen das Konzept auch mal charmant auf, etwa anlässlich des Frauenchores im dritten Akt. Da zeigen die daheimgebliebenen Ehefrauen via Monitor dem Bordpersonal Kinderfotos und -zeichnungen und präsentieren ihre eigene Attraktivität.
Dringlichkeit gewinnt die Inszenierung vor allem dadurch, dass es Tobias Kratzer gelingt, das Stück durchgängig als Utopie wie als Dystopie zu zeigen, utopisch in der Fähigkeit der Titelfigur Selika zu Hingabe und Verzicht, die auch Teil ihrer gesellschaftlichen Sozialisation zu sein scheint. Die Aliens sind ein naives, freundliches, vegetarisches, mit erstaunlichen Kräften ausgestattetes Volk, in dem allerdings jenes repressive System von Politik und Religion sich gerade zu entwickeln scheint, das die westliche Gesellschaft bereits dominiert. So ist auch der kulturpessimistische Schlussakzent nachvollziehbar: nach der transzendentalen, transzendierenden Riesenarie Selikas unter dem giftigen Mazanillo-Baum kommt noch einmal Vasco da Gama und rammt seine Flagge in den Boden des Alien-Planeten.
Ganz anders als die Regie versucht Antonello Manacorda am Pult von Beginn an, Meyerbeers dramatisches Konzept zu unterlaufen. Er stellt die großen Kontraste, die wilden Klangfarbenexperimente nicht aus, sondern setzt auf Transparenz und feine Abstimmung. Dabei gerät einiges schmallippig, fast zittrig, anderes unmotiviert laut und zackig. Gleichzeitig gelingen jedoch Inseln musikalischen Glücks wie die Duette in den beiden Schlussakten und vor allem dem brillant ausbalancierten Finalensemble des zweiten Aktes.
Was auch und vor allem an dem umwerfenden Sängerensmble liegt, das Frankfurts Oper für das schwer zu besetzende Stück aufbietet. Andreas Bauer führt als arroganter Antagonist Don Pedro mit szenischer Prägnanz und großem Schönklang eine imposante Reihe tiefer Stimmen an, Kirsten MacKinnon beeindruckt als brave Ines mit frischem, variantenreich geführtem und vor allem angenehm gerundetem Sopran und Brian Mulligan gibt seinem bulligen Alien Nelusco wilde Stimmkraft und viele zur Figur passende fahle Töne mit. Claudia Mahnke ist Selika, mit perlenden, wie leicht in Wachs gehüllt klingenden, auratischen Tönen. Man glaubt ihr ihre Liebe sehr gern. In der anderen Titelrolle – die Frankfurter Oper hat hier eine Entscheidung einfach mal verweigert – ist Michael Spyres zu erleben, ein Tenor für die Geschichtsbücher. Jede Phrase erscheint gearbeitet, ergibt sich aus der vorigen, bereitet die nächste vor. Wie selbstverständlich entsteht eine ganz organische Gesangslinie, die für die Figur einnimmt und sich passgenau in sämtliche Ensemble- und Orchesterklänge schmiegt. Auch Expansion kann Spyres, wo es die Partitur, die Charakterisierung seiner Figur fordern, aber immer klingt die gar nicht mal große Stimme frei und gewinnt im oberen Drittel der Skala zusätzliche Projektionskraft. Eine großartige künstlerische Leistung!