Text:Manfred Jahnke, am 3. Juli 2021
Openair spielen im Augenblick viele Theater, aber Wandertruppen, die mit ihren Aufführungen von Ort zu Ort ziehen wie einst im 18. Jahrhundert, gibt es nur wenige. Eine dieser Gruppen ist das 2015 von Florian Kaiser gegründete Theater Carnivore, das hauptsächlich im Rhein-Neckar-Raum auftritt. Kaiser versucht dabei an die Spieltradition der Commedia dell‘arte anzuknüpfen und hierfür auch Autoren zu gewinnen, die diesen Weg zwischen Tradition und Modernität mitgehen. Ingeborg von Zadow hat für das Theater Carnivore mit „Liebe oder Leben!“ eine Komödie in sechs Akten nach dem historischen Wanderbühnenstück „Eine schoene lustig triumphirende Comoedia von eines Koeniges Sohne auss Engellandt und des Koenigs Tochter aus Schottlandt“ für die Wanderbühne geschrieben.
Von den historischen Wanderbühnen, die nach dem Spielverbot in Britannien während des Dreißigjährigen Krieges in deutsches Gebiet gekommen sind, wissen wir, dass sie die komplexen Inhalte der Dramen des elisabethanischen Theaters auf reine Aktionen verkürzten, die Clownsnummern ausbauten und mit akrobatischen Nummern zu punkten versuchten. Das muss man im 21. Jahrhundert nicht mehr. Und so wird die Geschichte von der Königin Victoria, die wegen einer alten Liaison, von Malcolm, dem König von Schottland die Krone fordert, zu einer, die die tiefen Verletzungen einer Frau aufzeigt. Aber mehr noch steht die Frage im Zentrum der Handlung, was der Zank der Alten mit deren Kindern macht: Henry, der am Anfang sich hinter seiner Mutter versteckende Sohn der Victoria, verliebt sich Hals über Kopf in Louise, die Tochter des Malcolm – und sie sich in ihn. Beide verteidigen ihre Liebe gegen die Erwachsenen und emanzipieren sich dabei. Am Ende des turbulenten Spiels um Liebe – sowohl in der alten als auch in der jungen Generation – steht plötzlich die Behauptung im Raum, dass Henry und Louise Geschwister sein könnten, ein letzter Versuch von Königin Victoria, die gewonnene Harmonie wieder in Frage zu stellen. Mit vielen Anspielungen auf Shakespeare und manchen Anachronismen ist Zadow eine Komödie über die Liebe und deren Gefährdungen gelungen, die das Potential hat zu einem Familienstück zu werden: In den jungen Menschen, über die die Liebe hereinbricht, spiegelt sich, was einst den Alten geschah. Deren Liebe sich in Hass verwandelte und nun sich wieder zurückverwandelt in Liebe.
Die Premiere findet auf dem Hof eines Heidelberger Weingutes statt. In der leichten Brise eines warmen Sommerabends grenzen flatternde rote und weiße Tücher die Spielfläche ein. Auf der Bühne von Marcela von Frydek und Motz Tietze stehen hintereinander gestaffelt zwei Kisten und liegen ein kleines und ein großes hölzernes Schwert, ein Tuch und ein Brustpanzer auf dem Boden. Außer einer Karre, mit der die Kisten transportiert werden können, braucht es keine weiteren Spielrequisiten. Die so ausgestellte Materialität der Dinge setzt sich in den Kostümen fort: Das vierköpfige Ensemble agiert in goldenen bis gelben Ganzkörperkostümen. Alle vier tragen ein Plastikvisier mit einer Gasmaskenlüftung, die wie eine klassische Theatermaske wirkt: Da man die Gesichtsmimik nicht erkennen kann, müssen die Emotionen sich über gesteigerte Körperhaltungen ausdrücken. Über diese „neutralen Masken“ werden wiederum kleine weiße Masken gestülpt, die in ihrer Bemalung an höfische Larven des Rokoko erinnern. Mit diesen Mitteln zitiert Kaiser das Spielprinzip der Commedia dell‘arte, das er auch dramaturgisch nutzt. Dem Text von Ingeborg von Zadow fügt er ein Vorspiel und Zwischenspiele hinzu, die pantomimisch die szenischen Handlungen etablieren und sie in eine mythische Welt überführen wollen, wenn etwa mit einer Einhornmaske agiert wird. Allerdings fehlt es diesen Interludien probenbedingt – selbst die Endprobenphase wurde durch die Unwetter der letzten Tage empfindlich gestört – noch an genauem Timing, zumal die Vorgänge des Vorspiels zunächst befremdlich wirken und sich deren Bedeutung erst im Nachhinein erschließt.
Kaiser arbeitet sehr detailverliebt, wunderbar etwa die Szene, in der sich Henry und Louise küssen und dazu die Deckel ihrer Masken abschrauben müssen; die Inszenierung ist reich an solchen Einfällen, die ihre Kraft aus der Balance zwischen der gegenwärtigen Pandemie und der Rekonstruktion eines Maskentheaters beziehen. Die Choreografie von Marcela von Frydek zur Musik von Stephan Willing, die die Aktionen stimmig unterstützt, lässt das Ensemble konsequent marionettenhaft auftreten, so den Spielern alles Individuelle austreibend. Aber wie schon Meyerhold erwähnte, ohne starke Schauspielerpersönlichkeiten funktioniert eine solche Spielweise nicht. Da fällt besonders Marlies Bestehorn auf, die die liebende Louise aufmüpfig und kess vorführt. Markus Schultz spielt Henry mit tumben Zügen, Kerstin Kiefer die grotesk ausgestattete Victoria und Jörg Nadeschdin den Malcolm. Ein unterhaltsamer Abend ist so entstanden und zudem ein neues Stück von Ingeborg von Zadow, das nicht nur im Freien aufgeführt werden kann.